„Meine Eltern haben gesagt: ,Sucht euch Jobs, die Geld bringen‘“
INTERVIEW Carola Rackete (35) will für die Linke ins EU-Parlament einziehen und Lobbyisten das Leben schwer machen. Der MOPO erzählt sie, warum dieser Schritt einiges an Überwindung kostet
Sie hat Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet – und wurde als Kapitänin der „Sea Watch 3“quasi über Nacht berühmt. Jetzt will Carola Rackete (parteilos) nach Brüssel. Mit der MOPO sprach die 35-Jährige über den Spagat zwischen Weltpolitik und Aktivismus, die Zerrissenheit der Linken – und über den Rechtsruck in unserem Land.
MOPO: Frau Rackete, aktuell gehen in deutschen Städten Hunderttausende gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Werden die Massen etwas bewegen?
Carola Rackete: Ja, der Protest ist wichtig. Viele Leute haben die Gefahr durch die AfD unterschätzt. Dabei war das, was bei dem geheimen Treffen in Potsdam gesagt wurde und an die Öffentlichkeit gedrungen ist, leider gar nicht neu. Die Enthüllungen waren dennoch wichtig, da sie noch einmal weite Teile der Gesellschaft erreicht haben.
Was hat das bewirkt?
Den Menschen ist bewusst geworden, wie konkret die Absichten der AfD sind. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass der Faschismus dann voranschreitet, wenn die Masse der Leute nichts sagt und nichts macht. Es ist also gut, wenn die Leute auf die Straße gehen. Das kann allerdings erst der Anfang sein.
Wie muss es jetzt weitergehen?
Da müssen wir zwischen der Zivilgesellschaft und der Politik unterscheiden. Ich halte es für wichtig, dass Menschen Zivilcourage zeigen und sich gegen Alltagsrassismus einsetzen. Entscheidend wird aber sein, wie sich die Politik verhält.
Was fordern Sie?
Ein AfD-Verbotsverfahren muss nun dringend geprüft werden.
Ein Verfahren, das sich Jahre hinziehen könnte – akut würde das wenig ändern. Bereits im September stehen in Ostdeutschland aber wichtige Landtagswahlen an. Wo müssen die Parteien der Mitte ansetzen?
Für mich ist das Erstarken der AfD auch Ausdruck einer großen Unsicherheit in diesem Land. Vielen Menschen wird immer klarer, dass die Kinder es eben nicht mehr besser haben werden als ihre Eltern.
Dieses alte Aufstiegsversprechen hat keine Gültigkeit mehr. Wir brauchen deshalb mehr Absicherung durch den Staat, um der Unsicherheit entgegenzutreten.
Es ist nicht so, als hätten Menschen in unserem Sozialstaat keine Absicherung.
Aber für viele reicht es nicht zum Leben. Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld, ist aber noch immer richtig beschissen. Immer mehr Menschen sind in prekären Arbeitsverhältnissen gefangen, der Niedriglohnsektor wächst.
Sie gehen jetzt in die Politik. Wie lautet Ihre Antwort auf dieses Problem?
Umverteilung.
Der Teufel steckt hier vermutlich im Detail …
Nehmen wir die großen Lebensmittelkonzerne. Lebensmittel sind in den letzten drei Jahren um etwa 30 Prozent teurer geworden. Davon ist viel bei den Konzernen selbst hängen geblieben. Und das müsste man in Form einer Übergewinnsteuer höher besteuern. Parallel müsste man zum Beispiel den Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen. Das große Problem ist, dass wir aktuell eine soziale Krise und parallel noch eine ökologische Krise erleben. Viele Menschen fühlen sich unsicher und sind deshalb nicht gewillt, eine Transformation mitzumachen, die es braucht, um die Klimakrise anzugehen. Sie selbst sind parteilos, kandidieren bei der Europawahl für die Linke. Die hat zuletzt vor allem durch öffentliche Selbstzerfleischung auf sich aufmerksam gemacht. Warum tun Sie sich das an?
Sahra Wagenknecht hat die Partei lange von innen angegriffen, aber sie ist nun gegangen und das Thema hat sich erledigt. Das ist gut. Jetzt, wo die Grünen ihre Ziele immer
Für viele reicht es nicht zum Leben. Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld, ist aber noch immer richtig beschissen.
Viele Menschen nehmen Politiker als total abgehoben wahr. Das ist ein riesiges Problem.
mehr verwässern und die SPD nicht für soziale Gerechtigkeit sorgt, brauchen wir die Linke mehr denn je. Das sehe nicht nur ich so, seit Oktober sind ja Tausende Menschen in die Partei eingetreten.
Man hört, Sie hätten sich mit dem Entschluss zur Kandidatur schwergetan.
Ich bin von Beruf Naturschutzökologin und arbeite gern draußen und nicht so gerne im Büro. Aber aufgrund des Rechtsrucks und der Klimakrise finde ich es wichtig, die eigenen Handlungsoptionen zu überdenken.
In Brüssel werden Sie stundenlang in Ausschüssen sitzen.
Ja, aber das ist es mir wert. Brüssel ist voll von Lobbyisten, die einen großen Teil der Gesetze maßgeblich beeinflussen. Da werde ich ansetzen und diese Verflechtungen öffentlich machen und den Menschen so zeigen: Schaut, was hier abgeht.
Ist das nicht naiv?
Nein. Viele Menschen nehmen Politiker als total abgehoben wahr. Das ist ein riesiges Problem. Es ist deshalb wichtig, dass normale Menschen ins Parlament gehen. Wenn Sie auf Anhieb eine Klimaschutzmaßnahme umsetzen könnten. Welche wäre das?
Wo man auf Anhieb sehr einfach viel CO₂ einsparen könnte, wäre im Verkehr. Wir brauchen ein Verbot von Privatjets und Inlandsflügen sowie ein Tempolimit – und im Gegenzug einen guten öffentlichen Nahverkehr auf dem Land und in der Stadt. Wir sollten auch über ein Verbot von Kreuzfahrten nachdenken, weil das einfach Luxusemissionen sind.
Apropos Kreuzfahrt: Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem Nautik-Studium gekommen?
In meiner Familie war Arbeitslosigkeit immer mal wieder ein Thema. Es war nicht viel Geld da. Meine Eltern haben zu mir und meiner Schwester gesagt: Sucht euch Jobs, die Geld bringen. Meine Schwester ist Ingenieurin geworden worden und ich habe Nautik studiert. Ich hatte aber nie eine große Liebe zur Seefahrt. Ich wollte einen Job, der krisensicher ist.
Und sind irgendwann für die Seenotrettung als Kapitänin eingesprungen und haben Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet. Was ist aus dieser Zeit hängen geblieben?
Der Zynismus der EU-Institutionen. Es wird absichtlich nicht gerettet, obwohl man retten könnte. Das, was dort passiert, sind keine Unfälle. Es ist staatlich organisiertes Wegschauen.
Sie sind ohne Genehmigung in den Hafen von Lampedusa eingelaufen. Würden Sie sagen, dass Sie mutig sind?
Nein. Mich hat es auch geärgert, dass danach alle mediale Aufmerksamkeit plötzlich auf mir lag. Und nicht auf den Menschen, um die es wirklich geht: jenen, die im Mittelmeer ertrinken.
Sie sind über Nacht berühmt geworden.
Ja, ich habe eine größere öffentliche Plattform als andere Leute. Und die nutze ich jetzt. Ich hoffe, das inspiriert weitere Menschen, denn wir müssen uns gemeinsam gegen Ungleichheit, Klimazerstörung und Faschismus stellen.