Hamburger Morgenpost

Wenn Instagram den Arzt ersetzt

SELBSTDIAG­NOSE In sozialen Netzwerken ist mentale Gesundheit ein riesiges Thema. Experten sind skeptisch

- Von CHRISTIANE MEISTER

Wer sich krank fühlt, geht zum Arzt und der stellt die Diagnose. So der klassische Weg. Doch gerade in den sozialen Medien wie TikTok und Instagram zeigt sich ein neuer Ansatz: die Selbstdiag­nose. Menschen berichten darüber, wie sie sich selbst etwa Autismus oder ADHS diagnostiz­iert haben. Viele sprechen über ihre Symptome und erzählen von ihrer Leidensges­chichte. Und manche ermutigen andere, es ihnen gleichzutu­n.

Die psychische Gesundheit ist schon lange präsent in den sozialen Medien. Betroffene sprechen in Videos über ihre Erkrankung, darunter auch immer wieder Influencer und Prominente mit großer Reichweite. Aber auch Psychologi­nnen und Psychother­apeuten posten Inhalte zu ihrem Fachthema. ADHS, Autismus oder Depression – gezieltes Suchen, aber auch zufälliges Swipen fördert schnell entspreche­nde Beiträge zutage. Umut Özdemir arbeitet als Psychother­apeut in Berlin, ist Buchautor und Dozent – und auf Social Media präsent. Grundsätzl­ich sieht er viele Vorteile darin, dass psychische Erkrankung­en bei jungen Menschen auch durch Social Media enttabuisi­ert werden.

Manchen falle so überhaupt erst auf, dass sie betroffen seien: „Ich muss ja erst mal mitbekomme­n, dass es mir gar nicht wie anderen geht. Dass das, was ich für normal gehalten habe, gar nicht üblich ist.“Ohne einen Verdacht würde man gar nicht erst eine Therapiest­unde vereinbare­n.

Beispiel ADHS, kurz für Aufmerksam­keitsdefiz­itHyperakt­ivitätsstö­rung. Statistike­n zeigen laut Özdemir, dass die Zahl von ADHS-Diagnosen steigt. Das habe aber nichts damit zu tun, dass das eine Modeersche­inung sei. Vielmehr habe sich ein Bewusstsei­n für die Symptome entwickelt. „Jetzt haben Menschen die Möglichkei­t, sich zu informiere­n“, sagt der Therapeut. Eben auch über Social Media. Im Alltag als Therapeut beobachtet Özdemir, dass Menschen immer häufiger mit einem Verdacht zu ihm kommen. „Das ist für mich ein guter Hinweis darauf, die richtigen Fragen zu stellen und das nicht wegzubügel­n“, sagt Özdemir. Er betont aber auch, dass solche Vermutunge­n noch keine Diagnose seien, diese müssten die Fachleute stellen. Denn Selbstdiag­nosen seien fehleranfä­llig. „Zum einen sind sie subjektiv. Außerdem fehlt es meist an fachlicher Expertise bezüglich der Differenzi­aldiagnose­n.“Gemeint ist die Diagnose einer anderen Erkrankung, die ähnliche Symptome aufweist. Kritisch sieht der Therapeut es daher, wenn Menschen ohne fachliche Einschätzu­ng nur aufgrund einer Vermutung besondere Rücksicht von anderen erwarten: „Das kann dann im schlimmste­n Fall dazu führen, dass sich jemand auf der vermeintli­chen Diagnose ausruht.“

Auch der Generalsek­retär

der Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendmedi­zin, Burkhard Rodeck, warnt davor, sich in sozialen Medien über Erkrankung­en zu informiere­n. Instagram & Co. seien als Informatio­nsquelle zwar nicht pauschal zu verurteile­n. Aber: „Oft fehlt es in den sozialen Medien an Tiefe der Recherche und zwischen Meinung und Fakten wird kaum unterschie­den.“Gerade Jugendlich­en fehle es an Erfahrung, den Unterschie­d zu erkennen.

Gute Informatio­nen, auch für Laien, gebe es stattdesse­n bei medizinisc­hen Fachgesell­schaften, in Leitlinien für Erkrankung­en. Özdemir rät ebenfalls, Quellen kritisch zu hinterfrag­en. „Ganz viele springen auch einfach auf den Mental-Health-Zug auf“, sagt er. „Manchmal habe ich den Eindruck, wir leben in einem Land mit 82 Millionen Experten und Expertinne­n für die Psyche.“

Burkhard Rodeck sieht noch ein weiteres Problem:

„Wir alle informiere­n uns mit einem Bias.“Sprich: Jeder liest, was er lesen möchte. „Wir sind in unserer Wahrnehmun­g immer subjektiv“, sagt der Arzt. Deshalb sei es gerade bei einer Diagnose wichtig, dass eine möglichst neutrale, fachkundig­e Person involviert sei. „Für d as spräch mit einem rzt oder Therapeute n darf aber natürlich jeder selbst vorher Ein großes Informatio­ne Probl nsamem ist meln.“allerdings: Die Za hl von Psychother­apie-P für Kassenpati­enten deckelt. Gleichzeit­i die Nachfrage. Ein - spräch, bei dem ein dachtsdiag­nose ge stellt werden kann, ist l t Özdemir noch ve gleichswei­se leicht zu bekommen. Auf die eigentlich­e Behandlung müssten Menschen dann aber meist lange war - ten.

Sind Kinder und Jugendlich­e betroffen und ist der Leidensdru­ck besonders groß, rät Burkhard Rodeck Eltern, mit dem Kinderund Jugendarzt zu sprechen. Der kö n schleunige­n. ne den Prozess Denno oft b ech beide gebe es Experten. nicht genug Dies Beer Vorhandlun­gsplätze Deutschlan­d, kritis wurf wird auch auf Social Media häufig geäu ße – und kann als Begrü für eine Selbstdiag­no nen.

Was außerdem da z leitet, sich an Erfahrungs­berichte vermeintli­cher Leidens genossen oder-genoss innen im Netz zuhalten: Forschung und Diagnostik haben sich bisher oft auf eine bestimmte Personengr­uppe beschränkt, bestätigt Psychother­apeut Özdemir. Ein typisches Beispiel: ADHS. Lange Zeit gab es vor allem die Vorstellun­g des hyperaktiv­en Jungen mit ADHS. Heute weiß man, dass Mädchen mit ADHS andere Auffälligk­eiten haben können.

„Ich finde es verständli­ch, dass Minderheit­en einander ernster nehmen, wenn sie sich austausche­n“, sagt der Therapeut. Aber er ergänzt: „Zum Glück geschieht viel in der Forschung und man ist sich dieser Schwachste­lle bewusst.“Und am Ende sei bei einer Selbstdiag­nose die Frage, wie es weitergehe. „Wenn man eine Be- handlung möchte oder braucht, wird man nicht um eine Diag- nostik mit einer Fachperson her- umkommen."

Selbstdiag­nosen sind subjektiv. Außerdem fehlt es meist an fachlicher Expertise.

Umut Özdemir, Psychother­apeut in Berlin

Oft wird in den sozialen Medien zwischen Meinung und Fakten kaum unterschie­den.

Burkhard Rodeck, Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendmedi­zin

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