Wenn Instagram den Arzt ersetzt
SELBSTDIAGNOSE In sozialen Netzwerken ist mentale Gesundheit ein riesiges Thema. Experten sind skeptisch
Wer sich krank fühlt, geht zum Arzt und der stellt die Diagnose. So der klassische Weg. Doch gerade in den sozialen Medien wie TikTok und Instagram zeigt sich ein neuer Ansatz: die Selbstdiagnose. Menschen berichten darüber, wie sie sich selbst etwa Autismus oder ADHS diagnostiziert haben. Viele sprechen über ihre Symptome und erzählen von ihrer Leidensgeschichte. Und manche ermutigen andere, es ihnen gleichzutun.
Die psychische Gesundheit ist schon lange präsent in den sozialen Medien. Betroffene sprechen in Videos über ihre Erkrankung, darunter auch immer wieder Influencer und Prominente mit großer Reichweite. Aber auch Psychologinnen und Psychotherapeuten posten Inhalte zu ihrem Fachthema. ADHS, Autismus oder Depression – gezieltes Suchen, aber auch zufälliges Swipen fördert schnell entsprechende Beiträge zutage. Umut Özdemir arbeitet als Psychotherapeut in Berlin, ist Buchautor und Dozent – und auf Social Media präsent. Grundsätzlich sieht er viele Vorteile darin, dass psychische Erkrankungen bei jungen Menschen auch durch Social Media enttabuisiert werden.
Manchen falle so überhaupt erst auf, dass sie betroffen seien: „Ich muss ja erst mal mitbekommen, dass es mir gar nicht wie anderen geht. Dass das, was ich für normal gehalten habe, gar nicht üblich ist.“Ohne einen Verdacht würde man gar nicht erst eine Therapiestunde vereinbaren.
Beispiel ADHS, kurz für AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung. Statistiken zeigen laut Özdemir, dass die Zahl von ADHS-Diagnosen steigt. Das habe aber nichts damit zu tun, dass das eine Modeerscheinung sei. Vielmehr habe sich ein Bewusstsein für die Symptome entwickelt. „Jetzt haben Menschen die Möglichkeit, sich zu informieren“, sagt der Therapeut. Eben auch über Social Media. Im Alltag als Therapeut beobachtet Özdemir, dass Menschen immer häufiger mit einem Verdacht zu ihm kommen. „Das ist für mich ein guter Hinweis darauf, die richtigen Fragen zu stellen und das nicht wegzubügeln“, sagt Özdemir. Er betont aber auch, dass solche Vermutungen noch keine Diagnose seien, diese müssten die Fachleute stellen. Denn Selbstdiagnosen seien fehleranfällig. „Zum einen sind sie subjektiv. Außerdem fehlt es meist an fachlicher Expertise bezüglich der Differenzialdiagnosen.“Gemeint ist die Diagnose einer anderen Erkrankung, die ähnliche Symptome aufweist. Kritisch sieht der Therapeut es daher, wenn Menschen ohne fachliche Einschätzung nur aufgrund einer Vermutung besondere Rücksicht von anderen erwarten: „Das kann dann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sich jemand auf der vermeintlichen Diagnose ausruht.“
Auch der Generalsekretär
der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Burkhard Rodeck, warnt davor, sich in sozialen Medien über Erkrankungen zu informieren. Instagram & Co. seien als Informationsquelle zwar nicht pauschal zu verurteilen. Aber: „Oft fehlt es in den sozialen Medien an Tiefe der Recherche und zwischen Meinung und Fakten wird kaum unterschieden.“Gerade Jugendlichen fehle es an Erfahrung, den Unterschied zu erkennen.
Gute Informationen, auch für Laien, gebe es stattdessen bei medizinischen Fachgesellschaften, in Leitlinien für Erkrankungen. Özdemir rät ebenfalls, Quellen kritisch zu hinterfragen. „Ganz viele springen auch einfach auf den Mental-Health-Zug auf“, sagt er. „Manchmal habe ich den Eindruck, wir leben in einem Land mit 82 Millionen Experten und Expertinnen für die Psyche.“
Burkhard Rodeck sieht noch ein weiteres Problem:
„Wir alle informieren uns mit einem Bias.“Sprich: Jeder liest, was er lesen möchte. „Wir sind in unserer Wahrnehmung immer subjektiv“, sagt der Arzt. Deshalb sei es gerade bei einer Diagnose wichtig, dass eine möglichst neutrale, fachkundige Person involviert sei. „Für d as spräch mit einem rzt oder Therapeute n darf aber natürlich jeder selbst vorher Ein großes Informatione Probl nsamem ist meln.“allerdings: Die Za hl von Psychotherapie-P für Kassenpatienten deckelt. Gleichzeiti die Nachfrage. Ein - spräch, bei dem ein dachtsdiagnose ge stellt werden kann, ist l t Özdemir noch ve gleichsweise leicht zu bekommen. Auf die eigentliche Behandlung müssten Menschen dann aber meist lange war - ten.
Sind Kinder und Jugendliche betroffen und ist der Leidensdruck besonders groß, rät Burkhard Rodeck Eltern, mit dem Kinderund Jugendarzt zu sprechen. Der kö n schleunigen. ne den Prozess Denno oft b ech beide gebe es Experten. nicht genug Dies Beer Vorhandlungsplätze Deutschland, kritis wurf wird auch auf Social Media häufig geäu ße – und kann als Begrü für eine Selbstdiagno nen.
Was außerdem da z leitet, sich an Erfahrungsberichte vermeintlicher Leidens genossen oder-genoss innen im Netz zuhalten: Forschung und Diagnostik haben sich bisher oft auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt, bestätigt Psychotherapeut Özdemir. Ein typisches Beispiel: ADHS. Lange Zeit gab es vor allem die Vorstellung des hyperaktiven Jungen mit ADHS. Heute weiß man, dass Mädchen mit ADHS andere Auffälligkeiten haben können.
„Ich finde es verständlich, dass Minderheiten einander ernster nehmen, wenn sie sich austauschen“, sagt der Therapeut. Aber er ergänzt: „Zum Glück geschieht viel in der Forschung und man ist sich dieser Schwachstelle bewusst.“Und am Ende sei bei einer Selbstdiagnose die Frage, wie es weitergehe. „Wenn man eine Be- handlung möchte oder braucht, wird man nicht um eine Diag- nostik mit einer Fachperson her- umkommen."
Selbstdiagnosen sind subjektiv. Außerdem fehlt es meist an fachlicher Expertise.
Umut Özdemir, Psychotherapeut in Berlin
Oft wird in den sozialen Medien zwischen Meinung und Fakten kaum unterschieden.
Burkhard Rodeck, Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin