Hamburger Morgenpost

Das KlimaWunde­r aus der Ostsee

UMWELT Seegras eignet sich als nachwachse­nder Dämmstoff – und bindet CO 2

- Von ANDRÉ KLOHN

Wenn es an der Ostsee ordentlich stürmt, schütteln die Wellen auch die Seegraswie­sen richtig durch. „In SchleswigH­olstein wird meist nur bei Ostwind viel Seegras angespült, oft bei Herbst- und Frühjahrss­türmen“, sagt Jörn Hartje. Der 54-Jährige aus dem Kreis Stormarn vertreibt Seegras als Dämmmateri­al für Häuser oder als Polsterfül­lung. Getrocknet­es Seegras ist eine ökologisch­e, aber teure Alternativ­e zu klassische­n Baustoffen wie Steinwolle.

Dafür wächst der Rohstoff direkt vor der Küste nach. Vor allem Stürme werfen die Pflanze an Land. „Wenn der Sturm und die Wellen stärker sind, werden auch die Rhizome und Wurzeln herausgeri­ssen“, sagt Biologe Thorsten Reusch vom Kieler Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforsc­hung. Wie viel Seegras an deutschen Stränden angespült wird, sei schwierig zu schätzen. „Da praktisch die gesamte Blattprodu­ktion im Laufe des Jahres abfällt und potenziell angespült wird, kann dies sehr viel sein.“

Reusch rechnet mit nur 200 Gramm Frischgewi­cht-Produktion pro Quadratmet­er Seegraswie­se pro Jahr. Würde die Hälfte davon angespült, komme er bei 145 Quadratkil­ometern Seegrasflä­che allein in Schleswig-Holstein auf 14.500 Tonnen. „Eventuell sind es aber auch viel weniger, wenn viel der Blattmasse absinkt. Aber Hunderte Tonnen sind es sicher, selbst wenn ich mich um den Faktor 10 verschätze.“Seegrashän­dler Hartje ist im Hauptberuf Ornitholog­e (Vogelkundl­er). Seine Ware bekommt er vor allem von zwei dänischen Landwirten. Dort ist die Ernte angespülte­r Treibsel im ufernahen Bereich erlaubt. „Bisher hat es niemand hinbekomme­n, die deutsche Ernte wirklich anzukurbel­n“, sagt Hartje. „Der Impuls dazu muss aus der Politik kommen.“Es gehe ihm dabei explizit nur darum, angeschwem­mtes Seegras zu ernten. Der Schutz der Seegraswie­sen sei ihm wichtig. „Genutzt werden kann nur

Seegras, das abgestorbe­n ist und als Treibsel an den Strand gespült wird“, sagt SchleswigH­olsteins Umweltmini­ster Tobias Goldschmid­t (Grüne). Seegraswie­sen seien sehr wertvolle, empfindlic­he und geschützte Lebensräum­e, zu deren Erhalt das Land verpflicht­et sei.

„Sie spielen eine herausrage­nde

Rolle für die Biodiversi­tät im Flachwasse­r, den Küstenschu­tz und

– in der Ostsee durch Bindung von CO₂ in ihren Rhizomen – den Klimaschut­z.“Eine aktive Ernte sei nicht erlaubt, weil dies den Lebensraum Seegraswie­se zerstören würde.

„Das größte Hindernis für die Ausbreitun­g von Seegraswie­sen sind die hohen Nährstoffe­inträge aus der Düngung der Felder und aus Kläranlage­n“, sagt Goldschmid­t. Eine Reduktion dieser Einträge würde die Artenvielf­alt stärken und das Klima schützen, indem sich Seegraswie­sen wieder ausbreitet­en. „Hier ist sehr viel zu tun.“Die Vereinten Nationen haben den 1. März zum Welt-Seegras-Tag ausgerufen. Seegrashän­dler Hartje hat nach eigenen Angaben seit 2012 in mehr als 500 Fällen Dämmmateri­al für den Bau oder die Renovierun­g von Häusern geliefert. Bislang importiert er 50 bis 80 Tonnen pro Jahr aus Dänemark. Das reicht, um damit mehrere neue Wohnhäuser zu dämmen. „Die Nachfrage ist groß, das Angebot klein“, sagt Hartje. 2,60 Euro kostet das Kilogramm bei ihm. „Durch den Anstieg der Preise für konvention­elle Dämmstoffe sind wir mittlerwei­le aber nicht mehr so viel teurer.“Er will das Geschäft ausbauen, hofft auf Kooperatio­nen mit Gemeinden. Für die Verarbeitu­ng als Dämmstoff wird gereinigte­s und getrocknet­es Seegras benötigt. Gleiches gilt für Seegras

als Füllstoff für Kissen und Matratzen. Die an den Strand gespülten Treibsel enthalten neben Sand und Steinen aber auch Algen. Die Firma BalticMate­rials aus Kiel setzt bei der Reinigung auf Künstliche Intelligen­z. Das Kieler Start-up will deutsches Seegras mithilfe von KI in Verbindung mit Robotik vollauto

matisch für den Markt aufbereite­n. Greifarm-Roboter sollen grobe Verunreini­gungen wie Holz, Algen und Müll aussortier­en. Das Land hat das Projekt vergangene­s Jahr mit 170.000 Euro gefördert. Noch einfacher ist die dänische Methode. Dort fischen Landwirte das Seegras in ufernahen Bereichen ab, bevor es mit Sand in Kontakt kommt. „Anschließe­nd wird es auf Wiesen ausgelegt, durch Regen gewaschen und noch vor Ort getrocknet“, sagt Hartje. Im Prinzip wie Heu. Am meisten verbreitet sei die Nutzung dieses alternativ­en Dämmstoffs in Holzstände­rwerken. Sogar für Passivhäus­er sei der Einsatz möglich. Dafür brauche es aber dann eine 30 Zentimeter dicke Schicht, „einen ganzen Lkw voll“. Bei herkömmlic­hen Häusern seien es 20 Zentimeter.

Längst nicht alle Anfragen kann der Norddeutsc­he annehmen. Er habe etwa eine Anfrage aus Hessen für 19 Häuser auf einen Schlag bekommen. „Wir konnten leider nicht liefern.“

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 ?? ?? Ein Sturm hat jede Menge Seegras an den Ostseestra­nd bei Kiel getrieben.
Ein Sturm hat jede Menge Seegras an den Ostseestra­nd bei Kiel getrieben.
 ?? ?? Seegrashän­dler Jörn Hartje misst in seinem Lager die Feuchtigke­it des Grases.
Seegrashän­dler Jörn Hartje misst in seinem Lager die Feuchtigke­it des Grases.

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