Das KlimaWunder aus der Ostsee
UMWELT Seegras eignet sich als nachwachsender Dämmstoff – und bindet CO 2
Wenn es an der Ostsee ordentlich stürmt, schütteln die Wellen auch die Seegraswiesen richtig durch. „In SchleswigHolstein wird meist nur bei Ostwind viel Seegras angespült, oft bei Herbst- und Frühjahrsstürmen“, sagt Jörn Hartje. Der 54-Jährige aus dem Kreis Stormarn vertreibt Seegras als Dämmmaterial für Häuser oder als Polsterfüllung. Getrocknetes Seegras ist eine ökologische, aber teure Alternative zu klassischen Baustoffen wie Steinwolle.
Dafür wächst der Rohstoff direkt vor der Küste nach. Vor allem Stürme werfen die Pflanze an Land. „Wenn der Sturm und die Wellen stärker sind, werden auch die Rhizome und Wurzeln herausgerissen“, sagt Biologe Thorsten Reusch vom Kieler Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Wie viel Seegras an deutschen Stränden angespült wird, sei schwierig zu schätzen. „Da praktisch die gesamte Blattproduktion im Laufe des Jahres abfällt und potenziell angespült wird, kann dies sehr viel sein.“
Reusch rechnet mit nur 200 Gramm Frischgewicht-Produktion pro Quadratmeter Seegraswiese pro Jahr. Würde die Hälfte davon angespült, komme er bei 145 Quadratkilometern Seegrasfläche allein in Schleswig-Holstein auf 14.500 Tonnen. „Eventuell sind es aber auch viel weniger, wenn viel der Blattmasse absinkt. Aber Hunderte Tonnen sind es sicher, selbst wenn ich mich um den Faktor 10 verschätze.“Seegrashändler Hartje ist im Hauptberuf Ornithologe (Vogelkundler). Seine Ware bekommt er vor allem von zwei dänischen Landwirten. Dort ist die Ernte angespülter Treibsel im ufernahen Bereich erlaubt. „Bisher hat es niemand hinbekommen, die deutsche Ernte wirklich anzukurbeln“, sagt Hartje. „Der Impuls dazu muss aus der Politik kommen.“Es gehe ihm dabei explizit nur darum, angeschwemmtes Seegras zu ernten. Der Schutz der Seegraswiesen sei ihm wichtig. „Genutzt werden kann nur
Seegras, das abgestorben ist und als Treibsel an den Strand gespült wird“, sagt SchleswigHolsteins Umweltminister Tobias Goldschmidt (Grüne). Seegraswiesen seien sehr wertvolle, empfindliche und geschützte Lebensräume, zu deren Erhalt das Land verpflichtet sei.
„Sie spielen eine herausragende
Rolle für die Biodiversität im Flachwasser, den Küstenschutz und
– in der Ostsee durch Bindung von CO₂ in ihren Rhizomen – den Klimaschutz.“Eine aktive Ernte sei nicht erlaubt, weil dies den Lebensraum Seegraswiese zerstören würde.
„Das größte Hindernis für die Ausbreitung von Seegraswiesen sind die hohen Nährstoffeinträge aus der Düngung der Felder und aus Kläranlagen“, sagt Goldschmidt. Eine Reduktion dieser Einträge würde die Artenvielfalt stärken und das Klima schützen, indem sich Seegraswiesen wieder ausbreiteten. „Hier ist sehr viel zu tun.“Die Vereinten Nationen haben den 1. März zum Welt-Seegras-Tag ausgerufen. Seegrashändler Hartje hat nach eigenen Angaben seit 2012 in mehr als 500 Fällen Dämmmaterial für den Bau oder die Renovierung von Häusern geliefert. Bislang importiert er 50 bis 80 Tonnen pro Jahr aus Dänemark. Das reicht, um damit mehrere neue Wohnhäuser zu dämmen. „Die Nachfrage ist groß, das Angebot klein“, sagt Hartje. 2,60 Euro kostet das Kilogramm bei ihm. „Durch den Anstieg der Preise für konventionelle Dämmstoffe sind wir mittlerweile aber nicht mehr so viel teurer.“Er will das Geschäft ausbauen, hofft auf Kooperationen mit Gemeinden. Für die Verarbeitung als Dämmstoff wird gereinigtes und getrocknetes Seegras benötigt. Gleiches gilt für Seegras
als Füllstoff für Kissen und Matratzen. Die an den Strand gespülten Treibsel enthalten neben Sand und Steinen aber auch Algen. Die Firma BalticMaterials aus Kiel setzt bei der Reinigung auf Künstliche Intelligenz. Das Kieler Start-up will deutsches Seegras mithilfe von KI in Verbindung mit Robotik vollauto
matisch für den Markt aufbereiten. Greifarm-Roboter sollen grobe Verunreinigungen wie Holz, Algen und Müll aussortieren. Das Land hat das Projekt vergangenes Jahr mit 170.000 Euro gefördert. Noch einfacher ist die dänische Methode. Dort fischen Landwirte das Seegras in ufernahen Bereichen ab, bevor es mit Sand in Kontakt kommt. „Anschließend wird es auf Wiesen ausgelegt, durch Regen gewaschen und noch vor Ort getrocknet“, sagt Hartje. Im Prinzip wie Heu. Am meisten verbreitet sei die Nutzung dieses alternativen Dämmstoffs in Holzständerwerken. Sogar für Passivhäuser sei der Einsatz möglich. Dafür brauche es aber dann eine 30 Zentimeter dicke Schicht, „einen ganzen Lkw voll“. Bei herkömmlichen Häusern seien es 20 Zentimeter.
Längst nicht alle Anfragen kann der Norddeutsche annehmen. Er habe etwa eine Anfrage aus Hessen für 19 Häuser auf einen Schlag bekommen. „Wir konnten leider nicht liefern.“