Hamburger Morgenpost

Wir sind doch alle reif für den Leuchtturm

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Eine kleine Insel sucht einen „Leuchtturm­wärter“und wird nun mit Bewerbunge­n geflutet. 1264 Menschen leben zwischen den Dünen von Wangerooge. Mehr als 1100 Interessen­ten wollen die Stelle auf dem Turm haben. Sogar aus Polen und Tschechien kamen angeblich Zuschrifte­n. Eine Sprecherin der Verwaltung hält die Schwemme für „wirklich verrückt“und kündigt an, dass nun alle im Rathaus mit anpacken, um der Personalab­teilung zu helfen und den besten Bewerber aus den Postkörben zu fischen. Die Abteilung besteht aus einer Mitarbeite­rin. Klingt nach einer süßen, kleinen Geschichte in einer Zeit mit Kriegen, Streits und Streiks, mit AfD, Trump und Weselsky. Aber ist sie auch „wirklich verrückt“?

Auf jeden Fall ist schlaues Marketing im Spiel. Die Stelle als „Leuchtturm­wärter (m/w/d)“zu deklariere­n, dürfte eine der cleversten Aktionen sein, seit Möwen auf dem Sandberg in der Nordsee landen. So ziemlich jeder Fernsehsen­der, viele Online-Medien und ungezählte Zeitungen von Flensburg bis Füssen berichtete­n darüber – der Werbe-Wert für die Destinatio­n geht vermutlich in die Millionen Euro. Deutschlan­d sucht den Leuchtturm­wärter. Dabei gibt es den Beruf seit Jahrzehnte­n nicht mehr, auch nicht auf Wangerooge. Alle Wegweiser an unseren Küsten sind längst automatisi­ert und werden ferngesteu­ert. Das Wahrzeiche­n der Insel ist bereits seit 1969 außer Betrieb, nachdem es mehr als 100 Jahre Kapitänen und Steuerleut­en ein Feuer übers Meer schickte. Gebraucht wird auf Wangerooge vielmehr ein vielseitig­er Hausmeiste­r, der Tickets für Turm und Heimatmuse­um kontrollie­rt, geduldig jede TouristenF­rage beantworte­t und mehrmals täglich 161 Stufen steigen kann. Rasenmähen muss auch drin sein. Und ach so: Vergütet wird der Job nach Tarifstufe 5 für den öffentlich­en Dienst. In den sozialen Netzwerken – in denen die Stellenaus­schreibung natürlich auch Hunderttau­sende Male geteilt wurde – entbrannte sofort eine Diskussion darüber, wie weit man mit Tarifstufe 5 im öffentlich­en Dienst auf einer teuren Nordseeins­el kommt. Für Wangerooge zeigen Suchergebn­isse in den gängigen Immobilien­portalen aktuell exakt null Treffer an. Ob der Job nach 3623 Fragen über den Weg zum Strand und zwickenden Waden noch Spaß macht? Hinter der Flut an Bewerbern steckt etwas anderes: Sehnsucht nach einem kleinen Frieden. Die Bewerber lockt weniger die Aussicht über 7,94 Quadratkil­ometer Insel von der Spitze des Turms als vielmehr ein Wunsch. Einfach mal die Tür zu machen.

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Der Leuchtturm auf Wangerooge ist seit 1969 außer Betrieb. Ein Wärter wird dennoch gesucht.
 ?? ?? Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründete­n Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeirep­orter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschrif­ten wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Gerade erschien sein neues Buch: „Muss das Boot abkönnen“.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründete­n Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeirep­orter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschrif­ten wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Gerade erschien sein neues Buch: „Muss das Boot abkönnen“.

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