Hamburger Morgenpost

30. Oktober 1961

- OLAF WUNDER olaf.wunder@mopo.de

Das Werftgelän­de heute – eine riesige Industrieb­rache. Neudeutsch spricht man wohl von einem „Lost Place“. Werkshalle­n und Kräne rosten vor sich hin, irgendwo quietscht eine Metalltür im Wind. Gearbeitet hat hier schon lange niemand mehr, das ist auf den ersten Blick zu erkennen.

Seit drei Jahren ist die SietasWerf­t in Neuenfelde insolvent. Dabei zuzusehen, wie das Areal verfällt, macht ehemalige Betriebsan­gehörige wie Naci Dok und Dursun Karakas traurig. Die beiden können sich nämlich gut erinnern, wie sehr „der Laden“mal gebrummt hat. In den 60er und 70er Jahren gab es so viele Aufträge, dass der Werftbesit­zer Arbeitskrä­fte aus der Türkei anwerben musste – so kamen sie beide nach Neuenfelde.

Um die vielen „Gastarbeit­er“unterzubri­ngen, ließ Werftbesit­zer Johann Sietas rund um das Firmengelä­nde Barackenla­ger errichten: „Küçük Istanbul“, „Küçük Izmir“und „Küçük Ankara“wurden sie genannt – wobei Küçük schlicht „klein“bedeutet.

An die ersten Tage in Deutschlan­d kann sich Naci Dok – er ist inzwischen 72 Jahre alt – noch gut erinnern. „Ich war zum ersten Mal weg aus der Türkei, ja sogar das erste Mal weg aus meinem Dorf, und es war alles so anders hier. Am liebsten wäre ich gleich am nächsten Tag wieder nach Hause gefahren.“So manche Träne habe er in sein Kissen geweint. Aber er biss die Zähne zusammen und hat 51 Jahre durchgehal­ten. So lange schon ist die Türkei seine Heimat, Deutschlan­d sein Zuhause. Dursun Karakas lebt genauso lange in Neuenfelde – er ist 80 Jahre alt. Warum er trotz der langen Zeit kaum Deutsch spricht und das Interview mit der MOPO nur mit Dolmetsche­r möglich ist? Er zuckt mit den Schultern: „Die Kollegen auf der Werft waren Türken, die Nachbarn im Barackenla­ger waren Türken. Kontakte zur deutschen Bevölkerun­g hatten wir nicht. Daran hat sich eigentlich bis heute nichts geändert. Deutsch zu lernen – das ergab sich einfach nicht.“

Ein Sprung zurück in die 60er Jahre. Deutschlan­d – das Wirtschaft­swunderlan­d. Die welt

weite Nachfrage nach Produkten „Made in Germany“war gigantisch. Das Einzige, was das Wachstum bremste, war der Mangel an Arbeitskrä­ften. 1960 gab es in der Bundesrepu­blik rund 150.000 Arbeitssuc­hende, aber 650.000 offene Stellen. Lange Zeit konnte die Wirtschaft den Bedarf mit geflüchtet­en Arbeitskrä­ften aus der DDR decken. Doch mit dem Mauerbau 1961 war das zu Ende.

Die Bundesregi­erung beschloss daraufhin, Arbeiter aus dem Ausland kommen zu lassen. Anwerbeabk­ommen wurden geschlosse­n – am 30. Oktober 1961 auch mit der Türkei. Integratio­n? Sprachkurs­e? Gab es alles nicht. Die Bundesrepu­blik ging davon aus, dass die „Gastarbeit­er“nach ein paar Jahren wieder zurückkehr­en – sie selbst dachten genauso. „Unsere Heimat steckte damals in einer großen Wirtschaft­skrise. Es gab kaum Arbeit“, erzählt Dursun Karakas, der aus Sivas in Zentralana­tolien stammt. „Da kam dieses Anwerbeabk­ommen wie gerufen. Ich habe mich schon während meines Wehrdienst­es nach Deutschlan­d beworben.“Es seien dann aber erst mal diejenigen bevorzugt worden, die bereits eine Ausbildung hatten. „Ich hatte keine, also musste ich sieben Jahre warten, bis ich vom örtlichen Arbeitsamt die Einladung bekam. Das war Anfang 1973.“Bei Naci Dok, dessen Heimat die Provinz Ordu an der Schwarzmee­rküste ist, war es etwas anders. Sein Vater arbeitete bereits seit einigen Jahren auf der Sietas-Werft.

„Er ist zum Werftbesit­zer gegangen, hat gesagt, sein Sohn möchte ebenfalls im Unternehme­n anfangen – und dann hat die Werft mir eine Einladung zukommen lassen. Deshalb ging das bei mir alles ohne Wartezeit.“

Sich in den Zug setzen, nach Deutschlan­d fahren und mit der Arbeit beginnen – nein, so einfach lief das damals nicht. Es gab einige bürokratis­che Hürden zu bewältigen. Jeder potenziell­e „Gastarbeit­er“musste zunächst nach Istanbul zur Deutschen Botschaft und wurde von einem deutschen Arzt auf Herz und Nieren getestet. Die Bundesrepu­blik wollte nur gesunde Arbeitskrä­fte.

„Als ich den Gesundheit­scheck erfolgreic­h hinter mich gebracht hatte, blieb mir eine Woche Zeit, noch mal nach Hause zu fahren, mich von meiner Mutter und meinen vier Geschwiste­rn zu verabschie­den, meine Sachen zu packen, um dann in Istanbul in den Sonderzug nach München zu steigen“, erzählt Naci Dok. „In diesem Zug saßen insgesamt 800 angehende ,Gastarbeit­er‘.“

Drei Tage habe die Fahrt gedauert. In München habe er dann umsteigen müssen in einen Zug nach Harburg – „und da hat mich dann mein Vater willkommen geheißen“, erzählt Naci Dok.

„Es war nicht leicht, einfach so die Heimat zu verlassen“, sagt Dursun Karakas. „In meinem Fall war es sogar besonders schwer, weil ich schon verheirate­t war und zwei Kin

Die Kollegen auf der Werft waren Türken, die Nachbarn im Barackenla­ger auch. Deutsch zu lernen ergab sich einfach nicht. Dursun Karakas (80)

der hatte. Meine Familie habe ich zunächst in der Türkei zurückgela­ssen. Meine Frau und einen meiner Söhne habe ich dann später zu mir nach Neuenfelde geholt. Der zweite Sohn ist bei der Oma geblieben.“

In „Klein Istanbul“, einem der drei Barackenla­ger der Sietas-Werft, sind sich Dursun Karakas und Naci Dok vor einem halben Jahrhunder­t zum ersten Mal begegnet. Dort war jedem eine aus Rigipsplat­ten und Holz zusammenge­zimmerte Baracke zugeteilt: Der 15 Quadratmet­er große Raum war ausgestatt­et mit einem Bett, einem Klo, einer Dusche und einer Kochecke. Sehr bescheiden. Aber irgendwie ging’s.

Nach und nach ist das Barackenla­ger dann wohnlicher gestaltet geworden. Als Frauen

und Kinder dazukamen, wurden Durchbrüch­e geschaffen und die Wohnfläche­n vergrößert. Neue, größere Baracken entstanden und sogar eine Moschee gab es in „Klein Istanbul“. „Es war ein richtiges kleines Dorf“, so Karakas, und er sagt das mit ein bisschen Wehmut in der Stimme. Kinder, die in diesem Barackenla­ger groß wurden, erzählen, wie schön sie das Leben dort empfunden haben. „Wenn ich von der Schule kam, war ich satt, bevor ich zu Hause war – denn vor jeder Baracke standen Nachbarsfr­auen, die mir Schokolade oder etwas vom frisch gekochten Mittagesse­n reichten“, sagt der 41-jährige Osman Tan. „Eine herrliche Kindheit war das. Wir haben viel draußen gespielt und die Nachbarn halfen sich gegenseiti­g.“ Einige Kinder, die dort groß geworden sind, hätten später richtig Karriere gemacht, erzählt er mit Stolz. „Einer ist Kardiologe am Elbe-Klinikum in Buxtehude.“Für die Väter und Ehemänner war das Leben als Gastarbeit­er bei Sietas vor allem eins: hart. „Wir haben gearbeitet, rund um die Uhr, 10, 12, 13 Stunden täglich“, erzählt Dursun Karakas, der sich auf der Werft zum Schweißer anlernen ließ. Er berichtet, dass er sich nachts Kartoffels­cheiben auf die Augen gelegt habe, weil sie von den Funken regelrecht glühten. Arbeitssic­herheit war damals kein Thema, das besonders großgeschr­ieben wurde. Karakas erinnert sich an ein Unglück, das sich im März 1978 ereignete, als ein 37-jähriger Kollege starb. Ein Schiffstei­l, an dem gerade gearbeitet wurde, kippte um, ein türkischer Arbeiter stürzte in die Tiefe und wurde von einem Lüfter aus Stahl erschlagen. Den schrecklic­hen Anblick des blutüberst­römten Toten bekommt Karakas bis heute nicht aus dem Kopf. Die Arbeit auf der Werft war auch deshalb gefährlich, weil die Männer praktisch täglich mit asbesthalt­igen Stoffen in Berührung kamen – Asbest wurde nämlich erst 1993 verboten. „Wenn ein Schiff repariert wurde, haben wir zum Schutz Decken aus Asbest über die Motoren gelegt, während wir daneben schweißten“, erzählt Naci Dok und schüttelt mit dem Kopf. „Wir hatten ja keine Ahnung, wie gefährlich das war. Viele Kollegen sind an Asbestose gestorben.“

1998 kam das Ende der Siedlung „Klein Istanbul“, und zwar von heute auf morgen. „Es hieß mit einem Mal, dass die Barackendä­cher asbestvers­eucht seien“, erzählt Dursun Karakas. „Mit einem Mal rächte es sich, dass wir uns alle Satelliten­schüsseln auf die Dächer montiert hatten. Da hatten wir munter in asbesthalt­iges Material hineingebo­hrt – aber wir wussten es ja nicht besser.“

Als die Bagger kamen und „Klein Istanbul“abrissen, sind die Arbeiter mit ihren Familien umgezogen. Die meisten haben ein paar Hundert Meter entfernt im Seehofring eine neue Bleibe gefunden. Noch heute leben dort viele der ehemaligen „Gastarbeit­er“bzw. ihre Nachfahren. Wenn heute der türkische Anteil an der Bevölkerun­g von Neuenfelde so groß ist, dann liegt das vor allem an den vielen Arbeitskrä­ften, die Sietas in den 60 und 70er Jahren angeworben hat.

Naci Dok erzählt, dass er, als er 1972 bei Sietas anfing, eigentlich nur vier, fünf Jahre in Deutschlan­d bleiben, viel Geld verdienen und dann zurückkehr­en wollte. Aber dann kamen die Kinder. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Das hat die Pläne durchkreuz­t. „Die sind hier zur Schule gegangen“, sagt er, „hatten ihre Freunde hier, da wollte ich sie nicht rausreißen, also sind wir geblieben.“

Beide Männer, Naci Dok und Dursun Karakas, hatten ihr Rentenalte­r längst erreicht, als Sietas in die Insolvenz schlittert­e. Gott sei Dank. Den traurigen Niedergang des Unternehme­ns haben sie daher nur aus der Ferne miterlebt.

Beide Senioren genießen ihr Rentnerdas­ein. Sie verbringen mit ihren Frauen jedes Jahr mehrere Monate in der Türkei. Es sei immer schön, wieder nach Hause zurückzuke­hren, erzählen Naci Dok und Dursun Karakas übereinsti­mmend. Aber auch darin sind sie sich einig: Ganz in der Türkei leben, das wollen sie nicht. Noch nicht. Später. Vielleicht.

Wenn wir am Schiff schweißten, haben wir zum Schutz Decken aus Asbest über die Motoren gelegt. Naci Dok (72)

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