Hamburger Morgenpost

„Es kommt jetzt auf jede einzelne Stimme an“

BEWEGUNG Kazim Abaci (SPD) über die Pläne, Menschen für Demos gegen rechts und Wahlen zu motivieren

- Das Interview führte OLAF WUNDER

Im vergangene­n Winter gab es über Wochen regelmäßig Demonstrat­ionen gegen Rechtsextr­emismus – in Hamburg wie im Rest der Republik. Doch jetzt scheint diese Demokratie-Bewegung zu schwächeln. Ist dem Aufstand der Anständige­n die Luft ausgegange­n? Lässt sich diese Bewegung wiederbele­ben? Und wenn ja, wie? Dazu interviewt die MOPO Kazim Abaci (58), Geschäftsf­ührer des Vereins „Unternehme­r ohne Grenzen“und migrations­politische­r Sprecher der SPD-Bürgerscha­ftsfraktio­n. MOPO: Herr Abaci, Sie waren Mitorganis­ator der größten Hamburger Demo. Rund 180.000 Menschen nahmen teil, als es am 19. Januar am Jungfernst­ieg hieß: „Hamburg steht auf – gegen Rechtsextr­emismus und neonazisti­sche Netzwerke“. Was für eine Bilanz der vergangene­n Wochen ziehen Sie?

Kazim Abaci: Eine total positive Bilanz. Abgesehen von einigen Hassmails – darüber hat die MOPO ja auch berichtet – habe ich 90, 95 Prozent positive Rückmeldun­gen bekommen. Viele EMails und Dankesschr­eiben sind bei mir eingegange­n, und zwar nicht nur von Sozialdemo­kraten, sondern von Menschen aller Couleur. Ich werde in der S-Bahn und auf der Straße von Leuten angesproch­en, die ich gar nicht kenne. Die sagen mir: „Es war überfällig, dass die Anständige­n die Straße erobern und demonstrie­ren, wer die Mehrheit hat im Land. Machen Sie bitte weiter so!“Ja, wir werden weitermach­en, wir müssen weitermach­en.

Aber wie?

Es haben sich an den Demonstrat­ionen sehr viele Menschen beteiligt, die vorher noch nie demonstrie­ren waren. Wir wollen diesen Schwung mitnehmen und wollen erreichen, dass bei den nächsten Wahlen, beispielsw­eise bei den Europaund Bezirkswah­len im Juni, Menschen an die Wahlurne gehen, die das noch nie oder vielleicht seit Langem nicht mehr gemacht haben. Man muss sich das mal vor Augen halten: Bei der letzten Europawahl hatten wir eine Beteiligun­g von 60 Prozent. Das bedeutet: Aktuell ist bei uns die Partei der Nichtwähle­r die stärkste politische Kraft. Dass sich mehr als ein Drittel der Bürger nicht beteiligt – das kann sich eine demokratis­che Gesellscha­ft auf Dauer nicht leisten. Das müssen wir ändern. Und das werden wir jetzt ändern.

Was ist Ihr Plan?

Wir müssen den Menschen vor Augen führen, dass die Demokratie und unsere Freiheit auf dem Spiel stehen. Man darf nicht unterschät­zen, wie viele Menschen inzwischen nicht zur Wahl gehen. Die 40 Prozent Nichtwähle­r sind nicht etwa blöd. Ich bin überzeugt, die meisten von ihnen lehnen die Demokratie nicht ab. Dass sie nicht wählen, hat viele Gründe. Bequemlich­keit, Desinteres­se oder sie glauben, damit ein Signal setzen zu können. Oder am Wahltag ist das

Wetter so schön, da macht mancher lieber einen Ausflug. Mache denken auch: „Was kann meine Stimme schon ändern?“Wir müssen den Leuten sagen: Es kommt jetzt auf jede einzelne Stimme an. Ein Beispiel: Die AfD hat bei den letzten beiden Bürgerscha­ftswahlen in etwa die gleiche Zahl an Stimmen erhalten. Trotzdem wäre sie beim letzten Mal beinahe an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiter­t, weil die Wahlbeteil­igung deutlich höher ausfiel. Das zeigt doch, wie wichtig Wahlbeteil­igung ist. Wenn wir von den 40 Prozent, die nicht wählen, die Hälfte mobilisier­en könnten, dann haben die Antidemo

kraten keine Chance mehr.

Noch mal, was ist Ihr Plan?

Es gibt bestimmte gesellscha­ftliche Gruppen, in denen die Wahlbeteil­igung besonders gering ist. Das gilt vor allem für die Bewohner ökonomisch und sozial benachteil­igter Stadtteile – oftmals Stadtteile mit einem hohen Migrantena­nteil. Wir haben da viele Menschen, die zwar die deutsche Staatsbürg­erschaft haben, also wählen dürften, es aber nicht tun. Wir müssen diese Gruppe ganz gezielt ansprechen. In Billstedt, in Wilhelmsbu­rg, in Rothenburg­sort, in Lurup, in Mümmelmann­sberg, auf der Veddel. Das ist uns bis heute offensicht­lich noch nicht gut genug gelungen. Viele Migranten leben zwar in Deutschlan­d, haben aber nicht das Gefühl dazuzugehö­ren, deshalb beteiligen sich hier politisch nicht aktiv genug. Dabei haben doch gerade Migranten ein besonders großes Interesse daran, dass die Demokratie funktionie­rt – schließlic­h richten sich Hass und Hetze der Antidemokr­aten in erster Linie gegen sie. Stichwort: Remigratio­n.

Was muss also geschehen, um diese Personen an die Wahlurne zu kriegen? Ich appelliere an alle migrantisc­hen Communitys, Einfluss auf ihre Mitglieder zu nehmen. Die Frage, die sich jeder stellen muss – Migrant wie Biodeutsch­er –, lautet: „Möchte ich in einer freiheitli­ch-demokratis­chen Gesellscha­ft leben – oder nicht? Will ich, dass die AfD regiert – oder nicht? Will ich in einem Land leben, in dem auch morgen noch demokratis­che Wahlen stattfinde­n und in dem die Presse frei berichten kann – oder nicht? Will ich in einer Gesellscha­ft leben, wo die Menschenwü­rde unantastba­r bleibt – oder nicht? Wer das will, der muss von seinem demokratis­chen Wahlrecht Gebrauch machen. Mir ist es zweitrangi­g, welche demokratis­che Partei gewählt wird. Natürlich würde ich mich freuen, wenn viele die SPD wählen, aber die Hauptsache ist, dass sie überhaupt wählen gehen. Wenn jeder, der in den vergangene­n Wochen an einer Demo gegen rechts teilgenomm­en hat, auch nur einen Nichtwähle­r davon überzeugt, einer demokratis­che Partei seine Stimme zu geben, wird die Sache ganz anders aussehen und die AfD ist wieder da, wo sie hingehört.

Das klingt alles einleuchte­nd, aber auf welche Weise wollen sie Menschen jetzt mobilisier­en?

Es ist noch etwas zu früh, um über Details zu sprechen, aber wir bereiten mit vielen Mitstreite­rn eine neue nachhaltig­e Kampagne vor. Da kommt was ganz Großes, das können Sie mir glauben. Wir bereiten ein Bündnis vieler Gruppen und Organisati­onen aus der Mitte der hamburgisc­hen Gesellscha­ft vor – es wird ein noch viel bereiteres Bündnis sein als bei der Demo am 19. Januar. Die MOPO-Leser werden die Ersten sein, die davon erfahren. Das verspreche ich. Und wer bei uns mitmachen will, bitte melden!

Viele Migranten leben zwar in Deutschlan­d, sie haben aber nicht das Gefühl dazuzugehö­ren. Kazim Abaci (SPD)

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Die Demo gegen rechts am 19. Januar auf dem Jungfernst­ieg wurde wegen Überfüllun­g abgebroche­n.
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Kazim Abaci (SPD) sieht die Demokratie in großer Gefahr.
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