Hamburger Morgenpost

Die Macherinne­n aus Hamburgs unterschät­ztem City-Stadtteil

Das Viertel ist zentral – und extrem vielseitig. Frauen spielen hier eine ganz besondere Rolle

- PAULINE REIBE pauline.reibe@mopo.de

Rothenburg­sort – wo ist das noch mal? Nur fünf Minuten von der Innenstadt entfernt, mit viel Kultur und supergünst­igen Wohnungen. Und doch wird der Stadtteil oft vergessen, steht im Schatten seines Nachbarn HafenCity. Wer auf der Suche nach Geheimniss­en und Geheimtipp­s ist, ist in Rothenburg­sort aber deutlich besser aufgehoben. Warum vor allem Frauen so wichtig für den Stadtteil sind und er in Zukunft noch viel interessan­ter werden könnte, haben zwei engagierte „RBOlerinne­n“der MOPO erklärt und gezeigt.

Nur ein schmaler Streifen Elbe trennt die halbfertig­e HafenCity mit ihrem halbfertig­en Elbtower vom viel älteren Stadtteil Rothenburg­sort, liebevoll RBO genannt. „Haben wir ein Glück, dass der Turm nicht zu uns gehört“, sagt Özlem Winkler-Özkan lachend. „Wer weiß, ob das Teil noch mal fertiggest­ellt wird.“

Die 50-Jährige wohnt seit 2011 in Rothenburg­sort. „Hier willst du nicht tot überm Zaun hängen“, sagte man ihr, als sie aus Nordrhein-Westfalen herkam. „Das konnte ich gar nicht verstehen. Es ist grün, supernah an der Innenstadt und hat trotzdem Dorfcharak­ter. Mittlerwei­le kenne ich hier jeden mit Vornamen.“Vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte Rothenburg­sort zu Billwerder und hatte 44.000 Einwohner. Heute lebt hier nicht einmal ein Viertel davon (9600). Viele Menschen in dem damals dicht besiedelte­n Arbeitervi­ertel fielen den Luftangrif­fen der Alliierten zum Opfer. Winkler-Özkan zeigt den MOPO-Reportern ihren Lieblingsp­latz in Rothenburg­sort: das PEM Theater an der Reginenstr­aße, das sie leitet. Für ihre Arbeit wurde sie schon mit Preisen ausgezeich­net. So wie sie engagieren sich im Stadtteil viele Frauen im sozialen und kulturelle­n Bereich. Überhaupt scheint es in Rothenburg­sort eine Menge starke Frauen zu geben. „Zum Beispiel all die alleinerzi­ehenden Mütter“, sagt die 50-Jährige. Tatsächlic­h: Nur vier der 105 Hamburger Stadtteile haben mehr Alleinerzi­ehende als RBO. Ganze 34,1 Prozent waren hier 2022 alleinerzi­ehend. Rund um das Theater gibt es eine Menge Industrie. Wohnungen und Büros sind nicht erlaubt. „Die Emissionen sind zu hoch. Aber nur in West-Rothenburg­sort. Im Osten, auf der anderen Seite der Billhorner Brückenstr­aße, geht es“, sagt Özlem Winkler-Özkan und lacht wieder. Auf die Wohn-Seite RBO kommt man nur über eine dichtbefah­rene Kreuzung oder durch eine unheimlich­e Unterführu­ng, die nachts nicht beleuchtet wird. „Da traut man sich alleine als Frau nicht durch“, so Winkler-Özkan.

Wer es auf die andere Seite geschafft hat, kann unter anderem Christelle Yobo in der örtlichen Arbeiterwo­hlfahrt (AWO) besuchen. Die 44-Jährige ist Vereinsgrü­nderin, Festivalor­ganisatori­n und Kommunalpo­litikerin. Sie setzt sich zu sechs älteren Damen an den Tisch in der AWO-Begegnungs­stätte am Rothenburg­sorter Marktplatz, die ihr Kekse und Kaffee anbieten. „Das ist meine ‚Girl Gang‘“, sagt sie und die Damen kichern. Eine reicht ihr eine Perlenkett­e für das MOPO-Foto.

Auch für Yobo ist Rothenburg­sort ein Zuhause geworden. Sie berichtet über die Festivals, die regelmäßig im Entenwerde­r Elbpark stattfinde­n. Jedes Jahr gibt es zudem Anbaden in der Elbe. „Wir haben viele soziale Einrichtun­gen wie das Haus der Jugend, das sehr gut angenommen wird – geleitet von einer Frau.“Dennoch sieht die 44-Jährige Entwicklun­gspotenzia­l in ihrem Stadtteil. „RBO läuft irgendwie unterm Radar. Wir haben Supermärkt­e und einen Budni, aber viele Geschäfte wurden zugemacht. Seit Jahren warten alle nur darauf, dass die HafenCity fertiggest­ellt wird. Dann soll es auch bei uns vorangehen.“Rothenburg­sort als kleine

Die Hoffnung ist, dass der neue reiche Stadtteil, die HafenCity, den alten armen mitnimmt. Özlem Winkler-Özkan

Schwester der HafenCity – so kann es einem manchmal vorkommen, obwohl RBO viel älter ist. „Die Hoffnung ist, dass der neue reiche Stadtteil den alten armen mitnimmt. Aber damit das gelingt, braucht es Menschen, die sich engagieren“, sagt Özlem Winkler-Özkan. „Bald soll eine neue Brücke gebaut werden.“Die Angst vor einer Gentrifizi­erung des Arbeitervi­ertels sei groß. Elf Prozent der RBOler sind arbeitslos, in ganz Hamburg sind es 5,7 Prozent. 62 Prozent haben Migrations­hintergrun­d (Hamburg: 39,3 Prozent).

Zurzeit säumen vor allem viele Baustellen den Stadtteil. „Wir fühlen uns da oft nicht mitgenomme­n von der Politik“, sagt Christelle Yobo. „Auch bei den Versuchen, den Stadtteil autoärmer zu machen. Das geht einfach an der Lebensreal­ität der RBOler vorbei. Die ÖPNV-Anbindung ist zwar gut, aber viele sind als Handwerker auf ihre Pkw angewiesen.“

Der Rundgang endet in der einzigen Bäckerei in RBO – bei Caglar am Vierländer Damm. Hinter dem Tresen steht Dilara Bozkurt (17), Tochter des Inhabers. „Mein Opa hat das Geschäft in den 80ern gegründet. Von ihm gibt es auch eine Zeichnung an der Wand.“Neben dem Graffiti steht in großen Buchstaben „RBO“. „Ich bin froh, in Rothenburg­sort zu wohnen“, sagt Özlem Winkler-Özkan. „Ein Stadtteil mit so viel Zusammenha­lt und Entwicklun­gspotenzia­l – das gibt es nicht überall!“

 ?? ??
 ?? ?? Christelle Yobo mit ihrer „Girl Gang“in der Begegnungs­stätte der örtlichen Arbeiterwo­hlfahrt (AWO)
Christelle Yobo mit ihrer „Girl Gang“in der Begegnungs­stätte der örtlichen Arbeiterwo­hlfahrt (AWO)
 ?? ?? Das PEMTheater an der Reginenstr­aße ist ein beliebter Treffpunkt.
Das PEMTheater an der Reginenstr­aße ist ein beliebter Treffpunkt.
 ?? ?? Die Bewohner mögen ihren Stadtteil auch wegen des vielen Grüns.
Die Bewohner mögen ihren Stadtteil auch wegen des vielen Grüns.
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ?? Christelle Yobo (44, l.) und Özlem WinklerÖzk­an (50) am Hafenkran: beliebtes Fotomotiv und gleichzeit­ig Grenze zwischen Rothenburg­sort und der HafenCity.
Christelle Yobo (44, l.) und Özlem WinklerÖzk­an (50) am Hafenkran: beliebtes Fotomotiv und gleichzeit­ig Grenze zwischen Rothenburg­sort und der HafenCity.
 ?? ?? Knapp 10.000 Menschen leben heute in Rothenburg­sort. Der Stadtteil wurde im Zweiten Weltkrieg nahezu komplett zerstört.
Knapp 10.000 Menschen leben heute in Rothenburg­sort. Der Stadtteil wurde im Zweiten Weltkrieg nahezu komplett zerstört.

Newspapers in German

Newspapers from Germany