Der Arzt (85) und seine Praxis der Unsichtbaren
EIDELSTEDT Auf vier Etagen: Peter Ostendorf behandelt mit einem 84-köpfigen Team Menschen ohne Versicherung
„Illegal“ist ein Wort, das in der Praxis an der Fangdieckstraße nicht benutzt wird. „Wir haben hier Menschen ohne Papiere. Kein Mensch ist illegal“, sagt Dr. Peter Ostendorf mit ruhiger Stimme und sanftem Blick. Darüber hinaus seien die Patienten nicht alle aus dem Ausland. Etwa zehn Prozent sind Deutsche. Größtenteils Menschen, die gut verdient haben, privat versichert waren, in die Insolvenz gerutscht sind und ihre Krankenversicherung nicht mehr bezahlen konnten. „Das sind mehr, als wir denken.“
Der Mediziner, der mit seinem vollen weißen Haar und seiner regen Art deutlich jünger wirkt, berichtet von einem seiner Patienten: Ein Architekt, der Blut im Stuhl hatte. Seit einem Jahr. Er hatte das nicht ernst geommen, no glaubte an Hämorhoiden. rh Oder wollte es glauen. be Der Mediziner unteruchte su ihn. Es fiel ihm sc chwer, dem Patienten die Diagnose mitzuteilen. Endarmkrebs. a „Ganz schreckch.“liwr i Er Noch überlebte. am selben Ein Fall, Tag wurde der Architekt opeiert. be eispielhaft für viele. 44.500 B ehandlungen hatten die Ärzte und Schwestern in den napp n zehn Jahren, die die P raxis bereits besteht. Jeden Mittwoch ist Sp prechstunde. Bis zu 160 Paienten timg angshalle a ziehen im eine Erdgechoss Wartemarke Acht Jahre in der hängte großen er noch Ei inh sc und nehmen auf de en Holzstühlen Platz. „FFrüher war hier ein Jobcenter. J Die Räume sind perfekt für uns“, sagt Dr. Ostendorf und geht mit schnellen Schritten zum Fahrstuhl. Nach 20 Jahren als Chefarzt im Marienkrankenhaus war er mit 66 in Rente gegangen. tivzentrum dran, gründete am ein Marien Präven nnin krankenhaus. Doch bis zu acht Stunden am Tag arbeiten – das war ihm irgendwann zu viel. Mit 75 Jahren stieg er aus. Nicht um endlich Ruhe zu haben. „Was wollen wir denn mit all der Freizeit machen? Zu Hause im Sessel sitzen und die Zeitung irgendwann über Kopf lesen?“Für die Gesundheit sei es gut, gefordert zu werden und den Blick nach vorne zu richten.
Der Arzt wollte sich auf das konzentrieren, was ihn schon immer angetrieben hat: Menschen zu helfen. Er wollte den Druck, die Hierarchien im Klinikalltag und „den Reflex, immer ans Geld zu denken“, nicht mehr. Vor knapp zehn Jahren gründete er den ausschließlich durch Spenden finanzierten Verein. Gestartet mit vier Ärzten und drei Krankenschwestern i dreid i kleinen k Räumen einer Seniorenanlage S in Ho orn ist die „Praxis ohne o Grenzen“heute Deutschlands größte Praxis für Menschen ohne Krankenversicheng. K run Es gibt zehn Fach hbereiche, unter anm derem Zahnmedizin, Gye, näkologi Innere Medizin, HNO- un nd Augenabteilung, sowie Kin nderheilkunde und eine Sozi ialberatung. Auf vie er Etagen engagieim ren sich i Wechsel die ehrenamtlichen Mitarbeiter. 55
„Illegal“sagen wir nicht. Wir haben hier Menschen ohne Papiere. Kein Mensch ist illegal. Professor Dr. Peter Ostendorf
EINE AKTION VON MOPO UND HASPA
Ärzte, 25 Krankenschwestern und medizinische Fachkräfte, eine Sekretärin, eine Dolmetscherin und zwei Mitarbeiter in der Sozialberatung. Alle bereits im Ruhestand und froh, weiterhin etwas beitragen zu können. Ihre Patienten leiden an Bluthochdruck, Diabetes, Herzinsuffizienz – Erkrankungen wie in jeder anderen Praxis auch. Der große Unterschied: Viele kommen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Anfangs waren es sehr viele Patienten aus Rumänien, Bulgarien und Polen. Heute kommen sie größtenteils aus afrikanischen Ländern. Menschen, die in ständiger Angst leben, entdeckt und abgeschoben zu werden. Die irgendwo bei Landsleuten untergekommen sind, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch Näheres wissen Dr. Ostendorf und sein Team häufig nicht. „Wir gehen nicht so sehr ins Detail, was die Lebensumstände angeht.“Manchmal jedoch lernt er seine Patienten besser kennen, ihre Geschichten berühren ihn. Wie die eines Ghanaers, 40 Jahre alt, der vor Jahren mit starken Ohrenschmerzen in die Sprechstunde kam. Er hatte einen Tumor im Rachen, der bereits ins Ohr gewandert war. Eine Operation war in dem Stadium nicht mehr möglich. Es folgten Bestrahlung, Chemotherapie, wieder Bestrahlung. Lächelnd sitzt Dr. Ostendorf
an seinem Schreibtisch und berichtet, dass es dem Patienten seit drei Jahren gut gehe. Dass er voller Zukunftspläne sei, Deutsch lernen und am liebsten eine Ausbildung machen möchte. „Es ist anrührend, wie engagiert dieser Patient ist.“Ob er irgendwann mit Papieren in Hamburg leben kann, weiß der Mediziner nicht. Für seine ehrenamtliche Arbeit ist es auch nicht von Bedeutung. Bei ihm sind alle willkommen – außer Menschen mit Krankenversicherung.