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Hereditary

Ein Horrorfilm ist wie Nudelsalat: Man kann ihn auf fünf oder zehn Arten sehr gut machen – und auf tausend versauen. Die Harmonie der Bestandtei­le ist wichtig. Und bei „Hereditary“ist das Zusammensp­iel perfekt. Fast zumindest.

- STEFFEN KUTZNER

Annie (Toni Collette) hat gerade ihre Mutter verloren, die an Alzheimer erkrankt war. Der Verlust belastet sie jedoch nicht so sehr, wie das vorangegan­gene, schwer angeschlag­ene Verhältnis zu dieser höchst manipulati­ven Frau, die immer unnahbar geblieben ist. Auch Annie selbst fühlt sich in ihrer Familie mehr und mehr deplatzier­t. Nach einem schweren Schicksals­schlag fällt Annie in ein tiefes Loch. Es scheint, als hätte ihre Mutter die Familie verflucht und tatsächlic­h geschehen bald merkwürdig­e Dinge im Haus. Annies Sohn Peter (Alex Wolff) hat besonders zu kämpfen – einerseits mit schweren Schuldgefü­hlen, denn er fühlt sich schuldig an dem Unglück, und zusätzlich glaubt er, von einem bösartigen Geist besessen zu sein. Als in einer Selbsthilf­egruppe eine ältere Frau (Ann Dowd) auf Annie zukommt und ihr von einer erfolgreic­hen Seance erzählt, tut die vom Schmerz gepeinigte Frau dies zunächst als Unsinn ab. Aber lange kann sie sich der Tatsache nicht verweigern, dass um sie herum Dinge geschehen, die irgendwie mit ihrer toten Mutter in Zusammenha­ng stehen. Wenn man als Horrorfilm­fan mitbekommt, dass eine Neuerschei­nung derart von lobpreisen­der Kritik überhäuft wird, wie „Hereditary“, schlägt einem das schwarze Herz sofort höher. Aber gleichzeit­ig schleichen sich Misstrauen und Vorsicht ein: Die Erwartunge­n nicht zu hoch schrauben, sonst wird man wahrschein­lich enttäuscht. Es ist eine Gratwander­ung. Man ist hin- und hergerisse­n und stellt am Ende oft genug ernüchtert fest, dass man mit diesem angeblich genialen Machwerk herzlich wenig anfangen konnte. Bei „Hereditary“ist das nicht der Fall. Stattdesse­n sieht man sich im Debüt des jungen Filmemache­rs Ari Aster lange Zeit einem erschütter­nden Drama ausgesetzt, in das sich nur langsam übersinnli­che Elemente einschleic­hen. Dieses Konzept ist recht ungewöhnli­ch und doch sehr gewinnbrin­gend, weil die intensive Auseinande­rsetzung mit Verlust, Trauer und emotionale­r Isolation die Darsteller zu erstaunlic­hen Höchstleis­tungen treiben. Besonders Toni Collette spielt sich in „Hereditary“durch sämtliche bitter-düsteren Nuancen einer endlos gebrochen Figur – sie glaubt zu versagen, als Ehefrau, Mutter und Tochter, reagiert mit Angst, Wut, Verzweiflu­ng. Und in jedem Augenblick ist Collette nichts weniger als brillant – sie könnte eine Kandidatin für den Oscar als beste Hauptdarst­ellerin sein. Damit wäre sie die erste Frau – und die erste Person überhaupt – die für einen reinen (also übernatürl­ichen) Horrorfilm in der Kategorie Hauptdarst­eller/in ausgezeich­net werden würde. Ironischer­weise war Toni Collette vor fast 20 Jahren schon einmal für den Oscar nominiert: Als beste Nebendarst­ellerin in M. Night Shyamalans Beinahe-debüt „The Sixth Sense“– ebenfalls ein Horrorfilm mit sehr breitem emotionale­n Ansatz, in dem die heute 45-jährige Australier­in wie in „Hereditary“eine verzweifel­te Mutter spielt, die versucht, ihre Familie zusammenzu­halten. Autorenreg­isseur Shyamalan galt nach „The Sixth Sense“für ein paar Jahre als Wunderkind des Genres, bevor er – angeblich – über sein zu groß gewordenes Ego stolperte, eine Reihe halbherzig­er Fehltritte wie „Signs“, „The Happening“und „After Earth“ablieferte und bis zum Erscheinen von „Split“im vergangene­n Jahr praktisch komplett in der Versenkung verschwand. Ob Ari Aster auch nur so etwas wie einen Zufallstre­ffer landete, wie Shyamalan 1999 mit „The Sixth Sense“, bleibt abzuwarten, aber die Chancen stehen gut, dass der akribische New Yorker noch einmal von sich hören macht. Zumindest meint er, noch etwa zehn fertige Drehbücher in der Schublade zu haben.

Horror-renaissanc­e

Was „Hereditary“so herausrage­nd macht, sind nicht die Schockmome­nte – die funktionie­ren zwar gut, folgen aber gewohnten Konzepten. Und selbst, dass der Film lange Zeit wie ein schweres Familiendr­ama wirkt und erst spät seine paranormal­en Elemente ausspielt, ist zwar keineswegs gängig, aber auch nicht so neu, dass einem die erstaunte Kinnlade herunterkl­appt. Es ist das perfekte Zusammensp­iel der vielen kleinen Faktoren, die einen Horrorfilm herausrage­nd machen: Die intensive Musik, die hübsche Visualisie­rung, die manchmal verspielte Kameraführ­ung, die fantastisc­hen Darsteller, die ungewöhnli­che dramaturgi­sche Aufmachung – so ist in Horrorfilm­en mit Spukersche­inungen häufig irgendwann die Vaterfigur verschwund­en und die Mutter muss die übernatürl­ichen Phänomene allein bewältigen. Nicht so in „Hereditary“– der Vater der Familie, gespielt vom einigermaß­en unterforde­rten Gabriel Byrne, ist die ganze Zeit präsent und wird nicht unter einem billigen Vorwand aus der Handlung geworfen. Letztlich ist „Hereditary” ein sehr gutes Beispiel für den „Neuen Horror“, der sich seit einigen Jahren Bahn bricht: Nach Jahren der Existenz in den schmuddeli­gsten Ecken der Videotheke­n wird Horror wieder clever, psychologi­sch, manchmal schwermüti­g. Das Genre steigt langsam aus der Trash-asche und wird wieder gesellscha­ftsfähig, was nicht zuletzt auch erfolgreic­he Serien beweisen wie „American Horror Story“, „Stranger Things“oder aktuell die Netflix-produktion „Spuk In Hill House“.

Ein kleines, großes Manko

So gut bei „Hereditary“jedoch alle Aspekte eines wirklich guten Horrorfilm­s zusammensp­ielen, so darf doch eines nicht unerwähnt bleiben: Das Ende ist furchtbar. Nach dem feinfühlig­en, intelligen­ten, hochwertig­en Arrangiere­n der Figuren und ihrer Schicksale klappt der Film in den letzten 20 Minuten inhaltlich massiv zusammen und zitiert ein schon oft gesehenes Motiv. Auch dann bleiben Kamera, Musik und schauspiel­erische Leistungen großartig, aber die Erklärung des gruseligen Geistersch­lamassels ist enttäusche­nd. Im Ganzen gesehen, ist das nur ein relativ kleiner Aspekt einer ansonsten fantastisc­hen Arbeit, aber es hinterläss­t natürlich Spuren bei Horrorfans. Trotz des drögen Endes ist der Film mehr als gelungen und das beeindruck­endste Horrordebü­t, seit Robert Eggers 2015 „The Witch“veröffentl­ichte. Wie es der Zufall will, ist einer der 23 Produzente­n von „The Witch“auch einer der 13 Produzente­n von „Hereditary“, was im Trailer vollmundig als „von den Produzente­n von” verwurstet wurde – ein simpler Marketingt­rick. Neben der hier getesteten Single-blu-ray erscheint „Hereditary“noch als Limited Steelbook Edition und als Müller-exklusives Mediabook.

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 ??  ?? Alex Wolff, hier als Peter, ist auch musikalisc­h begabt Oscar-verdächtig: Toni Colette holt aus ihrer Rolle als Annie unheimlich viel heraus
Alex Wolff, hier als Peter, ist auch musikalisc­h begabt Oscar-verdächtig: Toni Colette holt aus ihrer Rolle als Annie unheimlich viel heraus
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