Hereditary
Ein Horrorfilm ist wie Nudelsalat: Man kann ihn auf fünf oder zehn Arten sehr gut machen – und auf tausend versauen. Die Harmonie der Bestandteile ist wichtig. Und bei „Hereditary“ist das Zusammenspiel perfekt. Fast zumindest.
Annie (Toni Collette) hat gerade ihre Mutter verloren, die an Alzheimer erkrankt war. Der Verlust belastet sie jedoch nicht so sehr, wie das vorangegangene, schwer angeschlagene Verhältnis zu dieser höchst manipulativen Frau, die immer unnahbar geblieben ist. Auch Annie selbst fühlt sich in ihrer Familie mehr und mehr deplatziert. Nach einem schweren Schicksalsschlag fällt Annie in ein tiefes Loch. Es scheint, als hätte ihre Mutter die Familie verflucht und tatsächlich geschehen bald merkwürdige Dinge im Haus. Annies Sohn Peter (Alex Wolff) hat besonders zu kämpfen – einerseits mit schweren Schuldgefühlen, denn er fühlt sich schuldig an dem Unglück, und zusätzlich glaubt er, von einem bösartigen Geist besessen zu sein. Als in einer Selbsthilfegruppe eine ältere Frau (Ann Dowd) auf Annie zukommt und ihr von einer erfolgreichen Seance erzählt, tut die vom Schmerz gepeinigte Frau dies zunächst als Unsinn ab. Aber lange kann sie sich der Tatsache nicht verweigern, dass um sie herum Dinge geschehen, die irgendwie mit ihrer toten Mutter in Zusammenhang stehen. Wenn man als Horrorfilmfan mitbekommt, dass eine Neuerscheinung derart von lobpreisender Kritik überhäuft wird, wie „Hereditary“, schlägt einem das schwarze Herz sofort höher. Aber gleichzeitig schleichen sich Misstrauen und Vorsicht ein: Die Erwartungen nicht zu hoch schrauben, sonst wird man wahrscheinlich enttäuscht. Es ist eine Gratwanderung. Man ist hin- und hergerissen und stellt am Ende oft genug ernüchtert fest, dass man mit diesem angeblich genialen Machwerk herzlich wenig anfangen konnte. Bei „Hereditary“ist das nicht der Fall. Stattdessen sieht man sich im Debüt des jungen Filmemachers Ari Aster lange Zeit einem erschütternden Drama ausgesetzt, in das sich nur langsam übersinnliche Elemente einschleichen. Dieses Konzept ist recht ungewöhnlich und doch sehr gewinnbringend, weil die intensive Auseinandersetzung mit Verlust, Trauer und emotionaler Isolation die Darsteller zu erstaunlichen Höchstleistungen treiben. Besonders Toni Collette spielt sich in „Hereditary“durch sämtliche bitter-düsteren Nuancen einer endlos gebrochen Figur – sie glaubt zu versagen, als Ehefrau, Mutter und Tochter, reagiert mit Angst, Wut, Verzweiflung. Und in jedem Augenblick ist Collette nichts weniger als brillant – sie könnte eine Kandidatin für den Oscar als beste Hauptdarstellerin sein. Damit wäre sie die erste Frau – und die erste Person überhaupt – die für einen reinen (also übernatürlichen) Horrorfilm in der Kategorie Hauptdarsteller/in ausgezeichnet werden würde. Ironischerweise war Toni Collette vor fast 20 Jahren schon einmal für den Oscar nominiert: Als beste Nebendarstellerin in M. Night Shyamalans Beinahe-debüt „The Sixth Sense“– ebenfalls ein Horrorfilm mit sehr breitem emotionalen Ansatz, in dem die heute 45-jährige Australierin wie in „Hereditary“eine verzweifelte Mutter spielt, die versucht, ihre Familie zusammenzuhalten. Autorenregisseur Shyamalan galt nach „The Sixth Sense“für ein paar Jahre als Wunderkind des Genres, bevor er – angeblich – über sein zu groß gewordenes Ego stolperte, eine Reihe halbherziger Fehltritte wie „Signs“, „The Happening“und „After Earth“ablieferte und bis zum Erscheinen von „Split“im vergangenen Jahr praktisch komplett in der Versenkung verschwand. Ob Ari Aster auch nur so etwas wie einen Zufallstreffer landete, wie Shyamalan 1999 mit „The Sixth Sense“, bleibt abzuwarten, aber die Chancen stehen gut, dass der akribische New Yorker noch einmal von sich hören macht. Zumindest meint er, noch etwa zehn fertige Drehbücher in der Schublade zu haben.
Horror-renaissance
Was „Hereditary“so herausragend macht, sind nicht die Schockmomente – die funktionieren zwar gut, folgen aber gewohnten Konzepten. Und selbst, dass der Film lange Zeit wie ein schweres Familiendrama wirkt und erst spät seine paranormalen Elemente ausspielt, ist zwar keineswegs gängig, aber auch nicht so neu, dass einem die erstaunte Kinnlade herunterklappt. Es ist das perfekte Zusammenspiel der vielen kleinen Faktoren, die einen Horrorfilm herausragend machen: Die intensive Musik, die hübsche Visualisierung, die manchmal verspielte Kameraführung, die fantastischen Darsteller, die ungewöhnliche dramaturgische Aufmachung – so ist in Horrorfilmen mit Spukerscheinungen häufig irgendwann die Vaterfigur verschwunden und die Mutter muss die übernatürlichen Phänomene allein bewältigen. Nicht so in „Hereditary“– der Vater der Familie, gespielt vom einigermaßen unterforderten Gabriel Byrne, ist die ganze Zeit präsent und wird nicht unter einem billigen Vorwand aus der Handlung geworfen. Letztlich ist „Hereditary” ein sehr gutes Beispiel für den „Neuen Horror“, der sich seit einigen Jahren Bahn bricht: Nach Jahren der Existenz in den schmuddeligsten Ecken der Videotheken wird Horror wieder clever, psychologisch, manchmal schwermütig. Das Genre steigt langsam aus der Trash-asche und wird wieder gesellschaftsfähig, was nicht zuletzt auch erfolgreiche Serien beweisen wie „American Horror Story“, „Stranger Things“oder aktuell die Netflix-produktion „Spuk In Hill House“.
Ein kleines, großes Manko
So gut bei „Hereditary“jedoch alle Aspekte eines wirklich guten Horrorfilms zusammenspielen, so darf doch eines nicht unerwähnt bleiben: Das Ende ist furchtbar. Nach dem feinfühligen, intelligenten, hochwertigen Arrangieren der Figuren und ihrer Schicksale klappt der Film in den letzten 20 Minuten inhaltlich massiv zusammen und zitiert ein schon oft gesehenes Motiv. Auch dann bleiben Kamera, Musik und schauspielerische Leistungen großartig, aber die Erklärung des gruseligen Geisterschlamassels ist enttäuschend. Im Ganzen gesehen, ist das nur ein relativ kleiner Aspekt einer ansonsten fantastischen Arbeit, aber es hinterlässt natürlich Spuren bei Horrorfans. Trotz des drögen Endes ist der Film mehr als gelungen und das beeindruckendste Horrordebüt, seit Robert Eggers 2015 „The Witch“veröffentlichte. Wie es der Zufall will, ist einer der 23 Produzenten von „The Witch“auch einer der 13 Produzenten von „Hereditary“, was im Trailer vollmundig als „von den Produzenten von” verwurstet wurde – ein simpler Marketingtrick. Neben der hier getesteten Single-blu-ray erscheint „Hereditary“noch als Limited Steelbook Edition und als Müller-exklusives Mediabook.