Roman Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann (Folge 49)
„Ein Glück“, rief ich, „ein Glück, wo bist denn du bloß gewesen?“, und es war ausnahmsweise erstaunlich, dass Alaska nicht antwortete. Ich zupfte die Blätter und Zweige aus seinem Fell und prüfte, ob er sich irgendwo verletzt hatte. Alles war intakt.
„Ein wirklich hübscher Hund“, sagte Frederik, und das war das erste und einzige Mal, dass er mich anlog. Alaska war freundlich, aber hübsch war er beileibe nicht. Ich richtete mich auf, Frederik und ich standen voreinander, und ich überlegte, was ich auf die Schnelle und vorsätzlich noch verlieren könnte, damit Frederik und ich hier noch etwas zu suchen hätten. Frederik kratzte sich an seinem kahlen Kopf. „Ich müsste dann jetzt mal zurück“, sagte er. „Wie komme ich denn von hier zum Haus der Einkehr?“
„Wir bringen dich“, sagte ich etwas zu laut und so glücklich, wie man ist, wenn man einen absehbaren Abschied etwas unabsehbarer gemacht hat, „wir bringen dich einfach den ganzen Weg zum Haus der Einkehr.“
Wir gingen zum Waldrand, Alaska zwischen uns, ich hatte eine Hand auf seinem Rücken wie an einem Geländer. Wir gingen immer geradeaus, bis viel zu schnell das nächste Dorf auftauchte.
„Es ist folgendermaßen“, sagte Frederik plötzlich, als wir schon fast am Haus der Einkehr waren, „ich komme eigentlich aus Hessen.“
„Ich dachte, du kämst aus dem Nichts.“„Das ist ungefähr dasselbe. Vor zwei Jahren habe ich mein Studium abgebrochen, um ?“
„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich, weil sich plötzlich alle Fragen entwirrten und zur Benutzung parat lagen.
„Fünfundzwanzig. Ich habe das abgebrochen, um in Japan in einem Kloster zu leben, und. . .“„Warum?“„Unterbrich mich nicht immer“, sagte Frederik, „ich habe dich auch nicht unterbrochen. Ich bin mal ein paar Wochen in einem buddhistischen Kloster gewesen. Und dann habe ich mich eben für diesen Weg entschieden. Wie spät ist es eigentlich?“Wir standen jetzt vor dem Haus der Einkehr. An der Tür hing ein kleiner Dekokranz. Ich kannte diese Sorte, das Haus der Einkehr hatte offenbar bei meiner Mutter eingekauft. Der Kranz hieß Herbsttraum und war bestückt mit Textillaub in stimmungsvollen Herbstfarben. Es ist aber doch Sommer, dachte ich, es ist viel zu früh für einen Herbsttraum.
Frederik zog eine Armbanduhr aus der Tasche. Viel zu früh, dachte ich. „Viel zu spät“, sagte er, „ich muss da jetzt rein.“
Alaska hatte sich vor Frederik gesetzt, als wolle er ihm den Weg versperren. „Danke für die Hilfe“, sagte ich leise, weil man einem Abschied nicht dauerhaft von der Schippe springen kann. Es sei denn, dachte ich, das Haus der Einkehr stürzt jetzt auf der Stelle ein, weil seine Wände mürbe geworden sind, als Spätfolge von zu viel Schreitherapie. Frederik schaute mich an. „Auf Wiedersehen, Luise“, sagte er, „es war ein Abenteuer, dich kennenzulernen.“
„Dich auch“, sagte ich.
Frederik strich mir über die Schulter. Ich schloss die Augen, und als ich sie öffnete, ging Frederik bereits durch die Tür. Die Tür begann, sich hinter ihm zu schließen, und ich ahnte, dass es eine Tür war, die, im Gegensatz zu anderen Türen, tadellos schließen würde.
Wenn man stirbt, heißt es, zieht das Leben an einem vorbei. Das muss manchmal sehr schnell gehen, wenn man beispielsweise irgendwo herausstürzt oder die Laufmündung eines Gewehrs unter dem Kinn hat. Während die Tür dabei war, sich hinter Frederik zu schließen, dachte ich in der Geschwindigkeit eines herausstürzenden Lebens, dass Alaska das Abenteuer gesucht hatte, obwohl mein Vater ihm jede Abenteuertauglichkeit abgesprochen hatte. Ich dachte, dass man Abenteuertauglichkeit womöglich nicht beurteilen kann, wenn man sich zu lange kennt, dass sie verlässlich nur von jemandem eingeschätzt werden kann, der zufällig durchs Unterholz gebrochen kommt. Ich dachte, während ich der Tür beim Geschlossenwerden zusah, daran, dass Frederik gesagt hatte, er habe sich für diesen Weg entschieden, und ich dachte, dass ich mich noch nie für etwas entschieden hatte, dass mir alles immer eher widerfuhr, ich dachte, dass ich zu nichts wirklich Ja gesagt hatte, sondern immer nur nicht Nein.
Fortsetzung folgt © Dumont Buchverlag, Köln