Düstere Szenarien
Ein wacheres Auge wäre angebracht gewesen.“Angesichts der Pannen im Fall des Berliner Weihnachtsmarkt-attentäters Anis Amri ist diese Feststellung des ehemaligen Bundesanwaltes Bruno Jost noch eher zurückhaltend. Doch wie sieht das Auge des Staates schärfer? Und wie lässt sich das mit den Prinzipien eines liberalen Rechtsstaates vereinbaren? Worauf sich die Polizei einstellen muss und was sie dazu benötigt, das ist Thema der Jahrestagung des Bundeskriminalamtes (BKA), die heute beginnt. Denn die Kluft zwischen steigendem Anspruch an die Arbeit der Polizei, deren sparbedingt geschwächten Ressourcen und der Bedrohungslage wächst ebenso wie die Schärfe der Kritik, wenn etwas schiefläuft.
Es gibt also gute Gründe, sich zu wappnen. Und es gibt Trends. Etwa: Benötigt Deutschland eine militarisierte Polizei, die ernste Unruhen in Großstädten niederschlagen kann? Oder etwas diffiziler: Sind die Strafverfolger ausreichend für die Überwachung des Internets und die Aufklärung von Cyberangriffen gerüstet? Wie steht es um das Smart Policing, die computergestützte Prognose, wo Straftaten drohen könnten?
Als Denkansatz lässt sich all das schwerlich kritisieren. Es bedarf der Diskussion selbst düsterer Szenarien, die im besten Fall nie Wirklichkeit werden. Alles andere wäre leichtfertig. Der Staat, der seit der Neuzeit das Gewaltmonopol besitzt, ist im Gegenzug für die Sicherheit der Bürger verantwortlich. Gelingt ihm das nicht, verliert er seine Legitimität. Diese Sicht ist Stand der Dinge seit Zeiten des englischen Staatstheoretikers Thomas Hobbes (1588-1679). Wenn Innenminister Thomas de Maizière und BKA-CHEF Holger Münch das Maximalprogramm des technisch und ju- ristisch Machbaren fordern, erledigen sie deshalb schlicht ihren Job. Ob sie bekommen, was opportun erscheint, steht auf einem anderen Blatt.
Zu Recht. Denn in der vielbeschworenen Balance zwischen Freiheit und Sicherheit neigt sich die Waagschale längst zu Lasten der Bürgerrechte. Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner, Propaganda gegen Anonymität und verschlüsselte Kommunikation, die Aufweichung der Trennung von Armee, Polizei und Geheimdiensten – die Begehrlichkeiten und die Zahl der Gesetze sind zuletzt rasant gewachsen, so dass selbst als Hardliner geltende Politiker bisweilen moderat auftreten – der Werkzeugkasten ist schon gut gefüllt.
Und doch darf es immer noch ein wenig mehr sein. Die Begründung liefert die Denkfigur der Schutzlücke, jenes Einfallstor für Übeltäter, das nie klein genug sein kann und allen Eingriffsbefugnissen zum Trotz doch nie geschlossen werden wird. Es regiert nicht Augenmaß, sondern die Angst, nicht genug getan zu haben.
Härtere Gesetze zu versprechen, kostet nichts, gewonnen ist damit wenig. Für den Vollzug sorgt vor allem Personal, das Geld kostet. Und kein Algorithmus kann erfahrene Ermittler und deren Intuition ersetzen. Eines ist daher mit Sicherheit der falsche Weg: das wache Auge mit dem Marsch in den Präventions- und Überwachungsstaat zu verwechseln.
Es regiert nicht Augenmaß, sondern die Angst, nicht genug getan zu haben.