Von den Rossmucken zum Muckenschiss
Forschung im handlichen Format: Der Kleine Sprachatlas von Baden-württemberg veranschaulicht, wo im Land was wie bezeichnet wird.
Was den Schwaben die Rossmucken oder Riesele sind den Badenern die Märzenkegel, Laub- oder Sommerflecken. Und in manchen Gebieten des fränkischen Baden-württemberg werden die Sommersprossen gar „Muckenschiss“genannt. Wer nun wissen möchte, wo welche Bezeichnung üblich ist, findet die Antwort im kürzlich veröffentlichten Band „Kleiner Sprachatlas von Baden-württemberg“.
Wie allgemein bekannt, sind in Baden-württemberg drei Dialekte heimisch, Schwäbisch, Alemannisch und Fränkisch, die wiederum in über ein Dutzend Untergruppen wie Oberrhein-alemannisch (Freiburg i.br.) oder Mittelostschwäbisch (Ulm) untergliedert sind. Entsprechend ändert sich die Mundart im Lande alle paar Kilometer, was aber nicht ausschließt, dass Begriffe wie „Gutsele“für „Weihnachtsgebäck“sowohl im fränkischen Norden als auch im alemannischen Süden oder mittendrin im „Brötle“-gebiet üblich sind, das wiederum den größten Teil des schwäbischen, alemannischen sowie des südlichen Teils des fränkischen Gebiets umfasst.
Diese zugegebenermaßen komplizierte Beschreibung zeigt, dass nur ein Kartenwerk in der Lage ist, die sprachlichen Unterschiede im Land auf klare, übersichtliche Weise zu vermitteln. Und dieses Kartenwerk liegt nun vor. Verfasser ist der Tübinger Sprachwissenschaftler Hubert Klausmann.
Bevor er den Kleinen Sprachatlas in Angriff nehmen konnte, musste er allerdings noch einen gewaltigen weißen Flecken in der Sprachgeographie des Landes tilgen: den Teil nördlich der Autobahn A 8. Denn die Mundart im Norden Baden-württembergs war als einzige im Land noch unerforscht, als Klausmann und sein Team, Rebekka Bürkle, Nina Kim Leonhard und Rudolf Bühler, sich daran machten, diese Lücke zu schließen.
Vier Jahre lang zogen sie über das Land, um in 90 Dörfern die Ortsmundarten zu dokumentieren: Wörter, Wendungen, Aussprache und Grammatik. Damit wurde die Voraussetzung für diesen Sprachatlas geschaffen, der nun das ganze Land lückenlos darstellt. Die Belege für den südlichen Teil stammen aus dem „Südwestdeutschen Sprachatlas“, der schon vor 30 Jahren in Freiburg entstanden ist.
Damit können alle Interessierten auf einen Blick erfassen, wo die Sommersprossen „Sonnenflecken“und wo sie „Rossmucken“heißen. Und sie erfahren bei der Gelegenheit, dass diese Bezeichnung nichts mit Pferden zu tun hat, die, wie eine andere Karte zeigt, im nordöstlichen Landesteil als „Gaul“und im südöstlichen als „Ross“bezeichnet werden. Vielmehr geht die Rossmuck auf das alte Wort „Rosem“= Sommersprosse zurück, das mit „Rost“verwandt ist.
Auch verschwundene oder im Verschwinden begriffene Wörter finden sich auf den Karten wieder wie die Bezeichnungen für die Taufpaten (Doote, Götte, Pfetterig) oder den noch relativ jungen Opa, der den Ähne, Nähle, Dätti sowie das Herrlein verdrängt hat. An den längst vergangenen Brauch des energiesparenden abendlichen Beisammenseins der Jugend in den winterlichen Lichtstuben erinnert eine ganze Reihe von Begriffen wie „Heimgarten, Kunkelstube, Heierles, Spinnstube, Vorsitz“oder „Karzen“.
Auch der Aussprache sind mehrere Karten gewidmet, die etwa das „Fuir“(Feuer) oder das -ei- in breit (broit, broat, braat etc.) zum Gegenstand haben. Und wer wissen möchte, wie das Partizip Perfekt des Hilfsverbs „sein“wo lautet (gwää, gwaa, gsii oder gsai), wird auch darüber detailliert aufgeklärt. Freilich wäre der Erkenntniswert all dieser Einzeldarstellungen nur ein begrenzter ohne eine Gesamtdarstellung der Mundarten des Landes und deren Entwicklung in der Vergangenheit und der Gegenwart. Daher leitet Klausmann seinen Kleinen Sprachatlas ein mit einer kurzen Sprachgeschichte, worin er schlüssig darlegt, dass die oberdeutschen Dialekte nicht von der Standardsprache (Schriftsprache) abgeleitet sind, sondern vom Alt- und Mittelhochdeutschen und somit kein „falsches Hochdeutsch“sind, wie viele meinen.
Eine Karte der Dialekte Baden-württembergs zeigt Landkreis für Landkreis auf, wo welche Variante der drei Hauptmundarten gesprochen wird. Klausmann betrachtet auch die Übergangs-gebiete, etwa im Bereich nördlich des Bodensees, wo das Alemannische allmählich vom Schwäbischen verdrängt wird, oder im Gebiet zwischen Ellwangen und Crailsheim, wo die Grenze zwischen Fränkisch und Schwäbisch scharf gezogen und bis dato sehr stabil ist. Auch die Gründe dafür legt er dar.
Schließlich klärt er noch darüber auf, dass Mundart situationsgebunden ist, dass Dialektsprecher etwa im Verein oder auf dem Sportplatz ein anderes Schwäbisch sprechen als auf einer städtischen oder staatlichen Behörde. Damit bringt er die Leser seines Sprachatlasses auf den aktuellen Stand der Mundartforschung.
Der Norden des Landes war ein weißer Fleck.