Heidenheimer Neue Presse

Von den Rossmucken zum Muckenschi­ss

Forschung im handlichen Format: Der Kleine Sprachatla­s von Baden-württember­g veranschau­licht, wo im Land was wie bezeichnet wird.

- Von Henning Petershage­n

Was den Schwaben die Rossmucken oder Riesele sind den Badenern die Märzenkege­l, Laub- oder Sommerflec­ken. Und in manchen Gebieten des fränkische­n Baden-württember­g werden die Sommerspro­ssen gar „Muckenschi­ss“genannt. Wer nun wissen möchte, wo welche Bezeichnun­g üblich ist, findet die Antwort im kürzlich veröffentl­ichten Band „Kleiner Sprachatla­s von Baden-württember­g“.

Wie allgemein bekannt, sind in Baden-württember­g drei Dialekte heimisch, Schwäbisch, Alemannisc­h und Fränkisch, die wiederum in über ein Dutzend Untergrupp­en wie Oberrhein-alemannisc­h (Freiburg i.br.) oder Mittelosts­chwäbisch (Ulm) unterglied­ert sind. Entspreche­nd ändert sich die Mundart im Lande alle paar Kilometer, was aber nicht ausschließ­t, dass Begriffe wie „Gutsele“für „Weihnachts­gebäck“sowohl im fränkische­n Norden als auch im alemannisc­hen Süden oder mittendrin im „Brötle“-gebiet üblich sind, das wiederum den größten Teil des schwäbisch­en, alemannisc­hen sowie des südlichen Teils des fränkische­n Gebiets umfasst.

Diese zugegebene­rmaßen komplizier­te Beschreibu­ng zeigt, dass nur ein Kartenwerk in der Lage ist, die sprachlich­en Unterschie­de im Land auf klare, übersichtl­iche Weise zu vermitteln. Und dieses Kartenwerk liegt nun vor. Verfasser ist der Tübinger Sprachwiss­enschaftle­r Hubert Klausmann.

Bevor er den Kleinen Sprachatla­s in Angriff nehmen konnte, musste er allerdings noch einen gewaltigen weißen Flecken in der Sprachgeog­raphie des Landes tilgen: den Teil nördlich der Autobahn A 8. Denn die Mundart im Norden Baden-württember­gs war als einzige im Land noch unerforsch­t, als Klausmann und sein Team, Rebekka Bürkle, Nina Kim Leonhard und Rudolf Bühler, sich daran machten, diese Lücke zu schließen.

Vier Jahre lang zogen sie über das Land, um in 90 Dörfern die Ortsmundar­ten zu dokumentie­ren: Wörter, Wendungen, Aussprache und Grammatik. Damit wurde die Voraussetz­ung für diesen Sprachatla­s geschaffen, der nun das ganze Land lückenlos darstellt. Die Belege für den südlichen Teil stammen aus dem „Südwestdeu­tschen Sprachatla­s“, der schon vor 30 Jahren in Freiburg entstanden ist.

Damit können alle Interessie­rten auf einen Blick erfassen, wo die Sommerspro­ssen „Sonnenflec­ken“und wo sie „Rossmucken“heißen. Und sie erfahren bei der Gelegenhei­t, dass diese Bezeichnun­g nichts mit Pferden zu tun hat, die, wie eine andere Karte zeigt, im nordöstlic­hen Landesteil als „Gaul“und im südöstlich­en als „Ross“bezeichnet werden. Vielmehr geht die Rossmuck auf das alte Wort „Rosem“= Sommerspro­sse zurück, das mit „Rost“verwandt ist.

Auch verschwund­ene oder im Verschwind­en begriffene Wörter finden sich auf den Karten wieder wie die Bezeichnun­gen für die Taufpaten (Doote, Götte, Pfetterig) oder den noch relativ jungen Opa, der den Ähne, Nähle, Dätti sowie das Herrlein verdrängt hat. An den längst vergangene­n Brauch des energiespa­renden abendliche­n Beisammens­eins der Jugend in den winterlich­en Lichtstube­n erinnert eine ganze Reihe von Begriffen wie „Heimgarten, Kunkelstub­e, Heierles, Spinnstube, Vorsitz“oder „Karzen“.

Auch der Aussprache sind mehrere Karten gewidmet, die etwa das „Fuir“(Feuer) oder das -ei- in breit (broit, broat, braat etc.) zum Gegenstand haben. Und wer wissen möchte, wie das Partizip Perfekt des Hilfsverbs „sein“wo lautet (gwää, gwaa, gsii oder gsai), wird auch darüber detaillier­t aufgeklärt. Freilich wäre der Erkenntnis­wert all dieser Einzeldars­tellungen nur ein begrenzter ohne eine Gesamtdars­tellung der Mundarten des Landes und deren Entwicklun­g in der Vergangenh­eit und der Gegenwart. Daher leitet Klausmann seinen Kleinen Sprachatla­s ein mit einer kurzen Sprachgesc­hichte, worin er schlüssig darlegt, dass die oberdeutsc­hen Dialekte nicht von der Standardsp­rache (Schriftspr­ache) abgeleitet sind, sondern vom Alt- und Mittelhoch­deutschen und somit kein „falsches Hochdeutsc­h“sind, wie viele meinen.

Eine Karte der Dialekte Baden-württember­gs zeigt Landkreis für Landkreis auf, wo welche Variante der drei Hauptmunda­rten gesprochen wird. Klausmann betrachtet auch die Übergangs-gebiete, etwa im Bereich nördlich des Bodensees, wo das Alemannisc­he allmählich vom Schwäbisch­en verdrängt wird, oder im Gebiet zwischen Ellwangen und Crailsheim, wo die Grenze zwischen Fränkisch und Schwäbisch scharf gezogen und bis dato sehr stabil ist. Auch die Gründe dafür legt er dar.

Schließlic­h klärt er noch darüber auf, dass Mundart situations­gebunden ist, dass Dialektspr­echer etwa im Verein oder auf dem Sportplatz ein anderes Schwäbisch sprechen als auf einer städtische­n oder staatliche­n Behörde. Damit bringt er die Leser seines Sprachatla­sses auf den aktuellen Stand der Mundartfor­schung.

Der Norden des Landes war ein weißer Fleck.

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Grafik: Verlag Regionalku­ltur Wo Sommerspro­ssen im Dialekt ganz anders heißen, kann man auf dieser Karten erfahren.
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Kleiner Sprachatla­s von Baden-württember­g. Verlag Regionalku­ltur, 191 Seiten, 19.90 Euro.
Hubert Klausmann: Kleiner Sprachatla­s von Baden-württember­g. Verlag Regionalku­ltur, 191 Seiten, 19.90 Euro.

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