Historiker der Zukunft
Ethnologen und Soziologen der Zukunft werden sich mit einer spannenden Frage beschäftigen: Wie konnte dieses merkwürdige Völkchen der Deutschen damals so lange, so stabil, so demokratisch existieren? Welche Bedingungen sorgten märchenhaft lange für Frieden und Wohlstand? Und warum machte die Digitalisierung einer der besten aller unvollkommenen Gesellschaften so schwer zu schaffen?
Die Wissenschaftler werden zunächst drei Erfolgsfaktoren ausmachen, die verknüpft sind und einander bedingen. Erstens: Auf den Trümmern von zwei angezettelten Weltkriegen und einer beispiellosen Diktatur mit anschließender Teilung war ein demokratisches Miteinander gewachsen, das auf Skepsis basierte, auf ständigem Reflektieren, Hinterfragen und Überprüfen. Aus der düsteren Geschichte war zweitens eine Verfassung hervorgegangen, die die auseinanderstrebenden Bedürfnisse Freiheit und Sicherheit klug integrierte. Drittens versöhnte die soziale Marktwirtschaft mit ihrem Schlachtruf „Wohlstand für alle“die Kräfte des Kapitalismus mit dem Wunsch der Bürger nach Fairness und Teilhabe.
Die Historiker der Zukunft werden zugleich feststellen, dass die deutsche Stabilität nie ein Zustand
Deutschland verdankte seine Stabilität der Dynamik des Aushandelns.
war, sondern stets ein Prozess. Wie bei der Frisbeescheibe eine hohe Rotation für stabilen Flug sorgt, verdankte Deutschland seine Stabilität der permanenten Dynamik des Aushandelns auf allen Ebenen. Kompromisse sind harte, oft unsichtbare Arbeit.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so werden die Historiker der Zukunft feststellen, geriet das deutsche Erfolgsmodell erst unmerklich, dann offensichtlicher in Gefahr. Die aufkommende Digitaltechnologie veränderte das Miteinander. Werte wie Verlässlichkeit, Expertise und Austausch, Kompromissbereitschaft, Besonnenheit und Ausdauer erodierten ebenso wie das Vertrauen in den Staat und sein Gewaltmonopol. Die Machtbalance verschob sich zwischen dem Individuum und globalen Konzernen. Zuverlässige Informationen verschwanden. Die Politik kapierte zu spät, dass die soziale Marktwirtschaft um eine ökologische und eine digitale Komponente erweitert werden musste.
Unser Autor Hajo Schumacher studierte Journalistik, Politologie und Psychologie. Der 56-Jährige war Redakteur beim Spiegel und Chefredakteur von Max. Heute arbeitet er als freier Journalist, Buchautor und Moderator.