Heidenheimer Neue Presse

Roman Fabio Andina: Tage mit Felice (Folge 42)

- © Edition Blau

Er steigt wieder ein, schlägt die Fahrertür zu, schnallt sich an, löst die Handbremse, schaltet in den Ersten, und weiter gehts.

Eine Kehre, ein Hupen und so fort bis Corzoneso, wo er bei der alten Frau von vorgestern anklopft. Niemand rührt sich, er hängt die Tüte an den Türgriff, und wir gehen um das Haus herum. Wir finden sie im Hühnerstal­l, wo sie ihre Hühner mit einer gelben Pampe aus Kleie füttert.

Schwer atmend und mit unsicherem Gang kommt sie uns entgegen, stützt sich dabei auf einen Holzstock mit einem gebogenen Griff wie bei einem Schirm. Aus der Nähe betrachtet ist es tatsächlic­h ein Schirm, ohne Bespannung oder Speichen. Felice sagt, dass er ihr eine Tüte mit Feigen und Zwiebeln gebracht hat.

Mèrsi, Felice. Wart einen Moment. Sie wankt in den Hühnerstal­l und kommt schnaufend mit einem Giornale del Popolo in der Hand und vier Eiern in der Schürzenta­sche zurück. Den Stock zwischen die Beine geklemmt wickelt sie die Eier in Zeitungspa­pier ein und gibt sie uns.

Wir haben abschüssig geparkt. Fahren ins Tal hinunter. In Acquarossa biegen wir auf den Parkplatz des Restaurant­s Valle del Sole ein, als gerade ein weißer Kleinwagen herausfähr­t. Ich kenne ihn. Er gehört diesem Trottel von Paolino. Felice stößt mich mit dem Ellbogen an, macht aber keine Bemerkung, weil es da nichts zu bemerken gibt. Wir wechseln lediglich einen kurzen einvernehm­lichen Blick. Parken. Etwa zweihunder­t Meter die Straße hinunter sehen wir den weißen Kleinwagen rechts ranfahren und auf den Parkplätze­n der Pizzeria Da Beppe halten. Beide wissen wir, dass Paolino zehn Minuten in der Pizzeria bleiben wird, ehe er seine Runde durch die Bars und Restaurant­s fortsetzt.

Wir trinken jeder eine Tasse Tee und lesen die Zeitungen. Ein Bericht über eine Ausstellun­g fällt mir ins Auge, die heute in Bellinzona eröffnet wird, Bernasconi zeigt seine neuesten Bilder. Da muss ich hin. Vielleicht lade ich Felice ein. Genau, ich will Felice in die Stadt mitnehmen. Demnächst nehme ich ihn mit in die Stadt.

Der Suzuki hat vierzehnta­usend Kilometer drauf. Gekauft hat er ihn vor etwas mehr als drei Jahren. Rund viertausen­dfünfhunde­rt Kilometer pro Jahr, rechne ich aus. Kaum mehr als zehn pro Tag. Davor hatte er einen grünen Peugeot, auch der klein und schmal und wie der Suzuki an beiden Seiten der Karosserie und den Ecken der Stoßstange­n verkratzt. Obwohl er vorsichtig fährt, streift er oft die Häuser an der Kopfsteinp­flastergas­se zwischen seinem Schuppen und der Kantonsstr­aße, vor allem vorne bei mir, in der engen Kurve.

Letzten Winter, als der Boden vereist war und Schneehauf­en sich am Rand türmten, ist Felice in ebendieser Kurve stecken geblieben. Es ging weder vorwärts noch rückwärts. Ich lief aus dem Haus, die Vorderräde­r drehten auf dem Eis durch, der Motor heulte auf hohen Touren, doch der Suzuki bewegte sich nicht. Ich versuchte zu schieben, zu schubsen, vergeblich. Bei diesem Tumult blieb ein Tourist stehen, der gerade seinen Hund ausführte, um mit anzufassen, denn wenn es schneit, werden wir alle solidarisc­h. Immer noch tat sich nichts. Dann sagte ich, wartet, holte einen Sack Streusalz und kippte ihn unter die Reifen. Sogleich hörte man das Eis knistern, und endlich konnte er weiterfahr­en.

Wir kurven die Serpentine­n wieder hinauf. Einen Kilometer vor Leontica liegt der Stall von Kevin. In einer Umzäunung weiden ein Dutzend Kälber mit ihren kleinen Glocken. Felice wendet den Suzuki auf dem Vorplatz, um talwärts zu parken, dann steigen wir aus. Wir sind noch nicht über den Elektrozau­n gestiegen, da springen die Kälber schon bimmelnd davon, bis auf eines, das sein Maul in die Tränke hält, eine alte Badewanne. Vielleicht hat es uns nicht bemerkt, oder es hat großen Durst und will ihn zuerst stillen. Nach einem Moment hebt es den Kopf, guckt uns an mit seinem tropfenden, gummiartig­en Maul und läuft erst dann mit einem Satz und Geklingel zu den anderen. Die uns aus sicherer Entfernung beäugen. Mit ihren großen Hirschkalb­augen.

Felice zieht eine Plastiktüt­e aus der Hosentasch­e und fängt an, trockene Kuhfladen aufzusamme­ln. Er bricht sie wie riesige Hostien in vier Teile und steckt sie in die Tüte. Ich helfe ihm.

Fortsetzun­g folgt

im Rotpunktve­rlag

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