Der Fabrikant, der den Marxismus erfand
Der Textilunternehmer und Denker steht seit jeher im Schatten des berühmten Freundes Karl Marx. Dabei war er ein mindestens so spannender Charakter. Eine Spurensuche zum 200. Geburtstag.
Frau Kafka ist von Engels enttäuscht. Sie verkauft Schmuckbänder. Auch heute noch werden in Unterbarmen, einem Stadtteil von Wuppertal, auf Bandwebstühlen Sicherheitsgurte oder Seile für Paraglider hergestellt. Und eben Bänder zur Zierde. Auf manchen finden sich in winziger Schrift ganze Gedichte. „Hier gibt es nur die Sachen, die kein Mensch wirklich braucht“, sagt Frau Kafka und dass sie Engels, der Textilunternehmer war, sehr liebt. „Aber wenn ich das irgendwo erzähle, heißt es gleich, der ist doch ein Kommunist.“Doch das ist nicht das Problem, sondern, dass sie von Engels keinen prägnanten Satz gefunden hat, der auf ein Band gepasst hätte. „Ich habe lange gesucht und Bücher gewälzt“, seufzt die Mitsechzigerin, „aber irgendwie war nichts dabei.“
Also kein Band für Friedrich Engels, den Mitverfasser des Kommunistischen Manifests, Denker, Barrikadenkämpfer, Kapitalist, Lebemann, berühmten Freund und Mäzen von Karl Marx. In der DDR war Engels ein „Klassiker“. Marx, Engels, Lenin – ein kommunistisches Dreigestirn. Heute erinnern noch ein paar Straßen an ihn. Das war es dann auch.
In Wuppertal weist jetzt ein ganzer Zug der berühmten Schwebebahn auf das Engels-jahr hin. Allerdings nur an den Wochenenden. Die neuen Wagen des Hauptverkehrsmittels der Stadt sind so zerstörerisch, dass die Schienen-anlagen während der Wochentage repariert werden müssen – seit Monaten das wichtigste Gesprächsthema in Wuppertal. Noch vor Corona und Engels.
Sohn einer Fabrikantenfamilie
Der Sohn einer Fabrikantenfamilie, der am 28. November 1820 in Barmen geboren wurde, schrieb in seinen „Briefen aus dem Wuppertal“als 19-Jähriger über die Stadt, die aus Barmen und Elberfeld besteht: „Der schmale Fluß ergießt seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garnbedeckten Bleichen hindurch; aber seine hochrote Farbe rührt nicht von einer blutigen Schlacht her, denn hier streiten nur theologische Federn und wortreiche alte Weiber; auch nicht von Scham über das Treiben der Menschen, obwohl dazu wahrlich Grund genug vorhanden ist, sondern einzig und allein von den vielen Türkischrot-färbereien.“
Es gibt drei verbindende Elemente in Wuppertal: die Schwebebahn, die Wupper und die „Allee“. Zeitweise nach Hitler benannt, trägt sie seit 1945 den Namen „Friedrich-engels-allee“. „Man kann daran erkennen, dass sozialistisches Gedankengut kurz nach dem Krieg eine große Rolle gespielt hat“, sagt Reiner Rhefus. Der Historiker arbeitet für das Museum für Industriekultur und ist ein stetig sprudelnder Quell, wenn es um Webereien, Färbereien, um die Verhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert und nicht zuletzt um Engels geht. Im Engels-garten, einer Anlage mit einem chinesischen Denkmal, einem von Alfred Hrdlicka und dem restaurierten Engels-haus, erzählt der 63-Jährige vom jungen Friedrich, der religiöse Gedichte schrieb und komponierte. Auch einen Ritterroman hat Engels verfasst. Letzteres galt in der liebevollen und musischen Familie als „Schund“, sagt Rhefus und, dass das Engels-haus gleich neben den Quartieren der Beschäftigten stand. „Das war eben ein Unterschied zu Marx. Engels hat hier gleich neben den Arbeitern gewohnt. Er sprach ihre Sprache: Platt.“
Nach der Revolution ins englische Exil
Mit 22 geht Engels nach Manchester zur kaufmännischen Ausbildung. Die „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“werden zum entscheidenden Impuls für Marx. Und die „Lage der arbeitenden Klasse in England“, die er mit 24 in Wuppertal vollendet, wird Engels‘ berühmtestes Werk. Dann die Revolution 1848. Engels, zurück in Elberfeld, wird dort kurzzeitig „Barrikadeninspektor“, doch die Bürgerlichen bekommen es schnell mit der Angst zu tun und schicken ihn weg. Den Badischen Aufstand überlebt er, muss aber ins Exil. 1850 wird Engels in Manchester leitender Angestellter einer Partnerfirma des Familienbetriebes. Es folgen 20 Jahre „Fronarbeit“, nicht zuletzt um die Familie Marx versorgen zu können.
„Er war ein guter Unternehmer“, sagt Lars Bluma, Leiter des Historischen Zentrums Wuppertal. „Und er hatte luxuriöse Unterkünfte. Wenn sein Vater zu Besuch kam, wurde herrschaftlich aufgetischt. War er wieder weg, zog es Engels in einfache Wohnungen, in denen er mit Mary und Lizzy Burns lebte.“Die Sache mit den irischen Schwestern ist eine typische Engels-geschichte. Die Arbeitermädchen waren das kaum versteckte Doppelleben des reichen Unternehmers, der gern an Fuchsjagden teilnahm und einen gut gefüllten Weinkeller hinterließ. Mary war es, die Engels das Leben der Arbeiter in Manchester zeigte. Nach ihrem Tod lebte er mit Lizzy zusammen, die schon vorher zum zweiten Hausstand von Engels gehörte. Sie heiratete er schließlich – an ihrem Totenbett. Marx kondolierte nicht so kalt wie beim Tod Marys, machte sich aber auch über den Analphabetismus von Lizzy lustig. Umgekehrt ging Engels’ Freundschaft so weit, dass er sich zu einem unehelichen Sohn bekannte, den Marx mit seiner Haushälterin gezeugt hatte.
Aber wie kam Engels mit dieser Rolle als Teil der Ausbeuterklasse zurecht? „Für ihn war das kein Widerspruch“, sagt der Historiker Lars Bluma. „Er hat sein Geld in die Weltrevolution gesteckt. Aber für ihn war auch klar: Es kommt gar nicht auf den Einzelnen an. Ein Unternehmer erfüllt seine Funktion im System. Es kommt drauf an, das System zu ändern.“
Bluma steht im frisch restaurierten Engels-haus, das Haus des Großvaters. Es sollte am 28. November eröffnet werden. Musikzimmer, Küche, Salons – alles wie
neu. Vier Millionen Euro wurden für die Sanierung ausgegeben. In der längst nicht mehr reichen Stadt ist das viel Geld.
Nun wird auch in Wuppertal die Beschäftigung mit Engels fast vollständig digital. Vieles hat man noch vor Corona oder in der Phase zwischen den Wellen geschafft. Eine große Ausstellung, einen Musikwettbewerb, Schüler haben über Engels geschrieben. „Mit den Kongressen sieht es natürlich schlecht aus“, sagt Christoph Grothe, Geschäftsführer des Engels-jahres. Manches wird nachgeholt, oft hilft Einfallsreichtum: „Der Schauspieler Olaf Reitz hat auf der leeren Bühne des Opernhauses das Kommunistische Manifest eingesprochen.“Das ist im Internet zu sehen. „Vor fünf Jahren hätte ich nicht gedacht, dass es ein so umfangreiches Engels-jahr geben würde“, sagt Grothe. Vor Jahren hat er versucht, seiner Grundschule und der Uni den Namen Engels geben zu lassen. Erfolglos.
Friedrich Engels, da herrscht in Wuppertal jedoch weitgehend Einigkeit, ist die größte Persönlichkeit der Stadt. Reiner Rhefus erinnert sich an eine Umfrage aus dem Jahr 2000. „Da lag Engels weit vor Johannes Rau und Pina Bausch, der berühmten Tanzchoreografin.“Auf dem Gedenkstein, der dort liegt, wo Engels‘ Geburtshaus gewesen sein soll, steht: „Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus“. 1987 war Erich Honecker hier. „Wat war der gleich? Staatsratspräsident der DDR“?, grübelt Rhefus, der wohl beste Kenner seiner Stadt. „Hier vor dem Engels-haus hat ihm der Udo Lindenberg seine Gitarre überreicht.“Auf der stand: „Gitarren statt Knarren“.
Engels hätte das vermutlich gefallen. Der undogmatische Revolutionär war am Ende seines Lebens sogar offen für Veränderungen durch Wahlen. „Wer weiß, wo er theoretisch gelandet wäre, wenn er fünf Jahre länger gelebt hätte“, sagt Lars Bluma. „Engels stellte sich immer in den Schatten von Marx.“Der sei das Genie, und Engels spiele die zweite Geige. „Er hat nicht umsonst dafür gesorgt, dass er kein Grab bekam“, sagt Bluma. „Aber wir wissen längst, wie wichtig Engels für das Gesamtwerk der beiden war. In Wuppertal sagen wir gern: Ohne Engels kein Marx.“Engels‘ britischer Biograf Tristan Hunt, nennt ihn sogar „den Mann, der den Marxismus erfand“.
Lars Bluma hat politisch „ein eher distanziertes Verhältnis zu Engels“und meint, vieles von Engels’ Gedanken sei nicht mehr zeitgemäß. Reiner Rhefus sagt: „Wenn man das Kommunistische Manifest liest, könnte man über weite Strecken denken, es wäre heute geschrieben worden. Vor allem, was die Globalisierung betrifft.“
Wenn man das Kommunistische Manifest liest, könnte man denken, es wäre heute geschrieben worden.
Reiner Rhefuß
Museum für Industriekultur Wuppertal