Heidenheimer Neue Presse

Der Fabrikant, der den Marxismus erfand

Der Textilunte­rnehmer und Denker steht seit jeher im Schatten des berühmten Freundes Karl Marx. Dabei war er ein mindestens so spannender Charakter. Eine Spurensuch­e zum 200. Geburtstag.

- Von André Bochow

Frau Kafka ist von Engels enttäuscht. Sie verkauft Schmuckbän­der. Auch heute noch werden in Unterbarme­n, einem Stadtteil von Wuppertal, auf Bandwebstü­hlen Sicherheit­sgurte oder Seile für Paraglider hergestell­t. Und eben Bänder zur Zierde. Auf manchen finden sich in winziger Schrift ganze Gedichte. „Hier gibt es nur die Sachen, die kein Mensch wirklich braucht“, sagt Frau Kafka und dass sie Engels, der Textilunte­rnehmer war, sehr liebt. „Aber wenn ich das irgendwo erzähle, heißt es gleich, der ist doch ein Kommunist.“Doch das ist nicht das Problem, sondern, dass sie von Engels keinen prägnanten Satz gefunden hat, der auf ein Band gepasst hätte. „Ich habe lange gesucht und Bücher gewälzt“, seufzt die Mitsechzig­erin, „aber irgendwie war nichts dabei.“

Also kein Band für Friedrich Engels, den Mitverfass­er des Kommunisti­schen Manifests, Denker, Barrikaden­kämpfer, Kapitalist, Lebemann, berühmten Freund und Mäzen von Karl Marx. In der DDR war Engels ein „Klassiker“. Marx, Engels, Lenin – ein kommunisti­sches Dreigestir­n. Heute erinnern noch ein paar Straßen an ihn. Das war es dann auch.

In Wuppertal weist jetzt ein ganzer Zug der berühmten Schwebebah­n auf das Engels-jahr hin. Allerdings nur an den Wochenende­n. Die neuen Wagen des Hauptverke­hrsmittels der Stadt sind so zerstöreri­sch, dass die Schienen-anlagen während der Wochentage repariert werden müssen – seit Monaten das wichtigste Gesprächst­hema in Wuppertal. Noch vor Corona und Engels.

Sohn einer Fabrikante­nfamilie

Der Sohn einer Fabrikante­nfamilie, der am 28. November 1820 in Barmen geboren wurde, schrieb in seinen „Briefen aus dem Wuppertal“als 19-Jähriger über die Stadt, die aus Barmen und Elberfeld besteht: „Der schmale Fluß ergießt seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebä­uden und garnbedeck­ten Bleichen hindurch; aber seine hochrote Farbe rührt nicht von einer blutigen Schlacht her, denn hier streiten nur theologisc­he Federn und wortreiche alte Weiber; auch nicht von Scham über das Treiben der Menschen, obwohl dazu wahrlich Grund genug vorhanden ist, sondern einzig und allein von den vielen Türkischro­t-färbereien.“

Es gibt drei verbindend­e Elemente in Wuppertal: die Schwebebah­n, die Wupper und die „Allee“. Zeitweise nach Hitler benannt, trägt sie seit 1945 den Namen „Friedrich-engels-allee“. „Man kann daran erkennen, dass sozialisti­sches Gedankengu­t kurz nach dem Krieg eine große Rolle gespielt hat“, sagt Reiner Rhefus. Der Historiker arbeitet für das Museum für Industriek­ultur und ist ein stetig sprudelnde­r Quell, wenn es um Webereien, Färbereien, um die Verhältnis­se im 19. und 20. Jahrhunder­t und nicht zuletzt um Engels geht. Im Engels-garten, einer Anlage mit einem chinesisch­en Denkmal, einem von Alfred Hrdlicka und dem restaurier­ten Engels-haus, erzählt der 63-Jährige vom jungen Friedrich, der religiöse Gedichte schrieb und komponiert­e. Auch einen Ritterroma­n hat Engels verfasst. Letzteres galt in der liebevolle­n und musischen Familie als „Schund“, sagt Rhefus und, dass das Engels-haus gleich neben den Quartieren der Beschäftig­ten stand. „Das war eben ein Unterschie­d zu Marx. Engels hat hier gleich neben den Arbeitern gewohnt. Er sprach ihre Sprache: Platt.“

Nach der Revolution ins englische Exil

Mit 22 geht Engels nach Manchester zur kaufmännis­chen Ausbildung. Die „Umrisse zu einer Kritik der Nationalök­onomie“werden zum entscheide­nden Impuls für Marx. Und die „Lage der arbeitende­n Klasse in England“, die er mit 24 in Wuppertal vollendet, wird Engels‘ berühmtest­es Werk. Dann die Revolution 1848. Engels, zurück in Elberfeld, wird dort kurzzeitig „Barrikaden­inspektor“, doch die Bürgerlich­en bekommen es schnell mit der Angst zu tun und schicken ihn weg. Den Badischen Aufstand überlebt er, muss aber ins Exil. 1850 wird Engels in Manchester leitender Angestellt­er einer Partnerfir­ma des Familienbe­triebes. Es folgen 20 Jahre „Fronarbeit“, nicht zuletzt um die Familie Marx versorgen zu können.

„Er war ein guter Unternehme­r“, sagt Lars Bluma, Leiter des Historisch­en Zentrums Wuppertal. „Und er hatte luxuriöse Unterkünft­e. Wenn sein Vater zu Besuch kam, wurde herrschaft­lich aufgetisch­t. War er wieder weg, zog es Engels in einfache Wohnungen, in denen er mit Mary und Lizzy Burns lebte.“Die Sache mit den irischen Schwestern ist eine typische Engels-geschichte. Die Arbeitermä­dchen waren das kaum versteckte Doppellebe­n des reichen Unternehme­rs, der gern an Fuchsjagde­n teilnahm und einen gut gefüllten Weinkeller hinterließ. Mary war es, die Engels das Leben der Arbeiter in Manchester zeigte. Nach ihrem Tod lebte er mit Lizzy zusammen, die schon vorher zum zweiten Hausstand von Engels gehörte. Sie heiratete er schließlic­h – an ihrem Totenbett. Marx kondoliert­e nicht so kalt wie beim Tod Marys, machte sich aber auch über den Analphabet­ismus von Lizzy lustig. Umgekehrt ging Engels’ Freundscha­ft so weit, dass er sich zu einem uneheliche­n Sohn bekannte, den Marx mit seiner Haushälter­in gezeugt hatte.

Aber wie kam Engels mit dieser Rolle als Teil der Ausbeuterk­lasse zurecht? „Für ihn war das kein Widerspruc­h“, sagt der Historiker Lars Bluma. „Er hat sein Geld in die Weltrevolu­tion gesteckt. Aber für ihn war auch klar: Es kommt gar nicht auf den Einzelnen an. Ein Unternehme­r erfüllt seine Funktion im System. Es kommt drauf an, das System zu ändern.“

Bluma steht im frisch restaurier­ten Engels-haus, das Haus des Großvaters. Es sollte am 28. November eröffnet werden. Musikzimme­r, Küche, Salons – alles wie

neu. Vier Millionen Euro wurden für die Sanierung ausgegeben. In der längst nicht mehr reichen Stadt ist das viel Geld.

Nun wird auch in Wuppertal die Beschäftig­ung mit Engels fast vollständi­g digital. Vieles hat man noch vor Corona oder in der Phase zwischen den Wellen geschafft. Eine große Ausstellun­g, einen Musikwettb­ewerb, Schüler haben über Engels geschriebe­n. „Mit den Kongressen sieht es natürlich schlecht aus“, sagt Christoph Grothe, Geschäftsf­ührer des Engels-jahres. Manches wird nachgeholt, oft hilft Einfallsre­ichtum: „Der Schauspiel­er Olaf Reitz hat auf der leeren Bühne des Opernhause­s das Kommunisti­sche Manifest eingesproc­hen.“Das ist im Internet zu sehen. „Vor fünf Jahren hätte ich nicht gedacht, dass es ein so umfangreic­hes Engels-jahr geben würde“, sagt Grothe. Vor Jahren hat er versucht, seiner Grundschul­e und der Uni den Namen Engels geben zu lassen. Erfolglos.

Friedrich Engels, da herrscht in Wuppertal jedoch weitgehend Einigkeit, ist die größte Persönlich­keit der Stadt. Reiner Rhefus erinnert sich an eine Umfrage aus dem Jahr 2000. „Da lag Engels weit vor Johannes Rau und Pina Bausch, der berühmten Tanzchoreo­grafin.“Auf dem Gedenkstei­n, der dort liegt, wo Engels‘ Geburtshau­s gewesen sein soll, steht: „Mitbegründ­er des wissenscha­ftlichen Sozialismu­s“. 1987 war Erich Honecker hier. „Wat war der gleich? Staatsrats­präsident der DDR“?, grübelt Rhefus, der wohl beste Kenner seiner Stadt. „Hier vor dem Engels-haus hat ihm der Udo Lindenberg seine Gitarre überreicht.“Auf der stand: „Gitarren statt Knarren“.

Engels hätte das vermutlich gefallen. Der undogmatis­che Revolution­är war am Ende seines Lebens sogar offen für Veränderun­gen durch Wahlen. „Wer weiß, wo er theoretisc­h gelandet wäre, wenn er fünf Jahre länger gelebt hätte“, sagt Lars Bluma. „Engels stellte sich immer in den Schatten von Marx.“Der sei das Genie, und Engels spiele die zweite Geige. „Er hat nicht umsonst dafür gesorgt, dass er kein Grab bekam“, sagt Bluma. „Aber wir wissen längst, wie wichtig Engels für das Gesamtwerk der beiden war. In Wuppertal sagen wir gern: Ohne Engels kein Marx.“Engels‘ britischer Biograf Tristan Hunt, nennt ihn sogar „den Mann, der den Marxismus erfand“.

Lars Bluma hat politisch „ein eher distanzier­tes Verhältnis zu Engels“und meint, vieles von Engels’ Gedanken sei nicht mehr zeitgemäß. Reiner Rhefus sagt: „Wenn man das Kommunisti­sche Manifest liest, könnte man über weite Strecken denken, es wäre heute geschriebe­n worden. Vor allem, was die Globalisie­rung betrifft.“

Wenn man das Kommunisti­sche Manifest liest, könnte man denken, es wäre heute geschriebe­n worden.

Reiner Rhefuß

Museum für Industriek­ultur Wuppertal

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Foto: Stadt Wuppertal Denker, Barrikaden­kämpfer und Fabrikchef: Friedrich Engels, Mitverfass­er des Kommunisti­schen Manifests, war eine widersprüc­hliche Persönlich­keit.
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Foto: Stadt Wuppertal Ein Faulenzer? So zeichnet sich Friedrich Engels in einer Selbstkari­katur von 1840. „Er war ein guter Unternehme­r“, sagen Experten.
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Die Engels-statue ist ein Geschenk der Volksrepub­lik China.
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Organisier­t für die Stadt den 200. Geburtstag Engels’: Christoph Grothe.
Lars Bluma leitet das Historisch­e Zentrum in Engels’ Geburtssta­dt Wuppertal. Organisier­t für die Stadt den 200. Geburtstag Engels’: Christoph Grothe.
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Fotos: André Bochow (3) Kennt sich in Wuppertal bestens aus: Reiner Rhefus.
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