Vielfalt im Fadenkreuz
Blaue Augen, ein Fadenkreuz, flüchtende Beine auf nassem Asphalt und die markante Spirale: Schon der Vorspann, der jeden Sonntag um 20.15 Uhr die Mörderjagd im „Tatort“einläutet, hat Kultstatus. Die Krimireihe selbst ist noch viel mehr als Kult: Der „Tatort“gilt als größter Langzeit-erfolg der ARD, als Superlativ des deutschsprachigen Unterhaltungsfernsehens. Er führt nicht nur in die Abgründe der menschlichen Seele, sondern spießt auch gesellschaftliche Entwicklungen auf. Er vermittelt Lokalkolorit und regionales Brauchtum aus Süd, Ost, West und Nord genauso wie das urbane Lebensgefühl in den Großstädten der Republik. Und welches Tv-event schafft es heutzutage noch, ein generationenübergreifendes Gemeinschaftserlebnis zu schaffen, von Länderspielen der Fußball-nationalmannschaft mal abgesehen?
Am Sonntag wird das Phänomen „Tatort“50 Jahre alt, was mit einer fulminanten Doppelfolge zelebriert wird. Den bisher 1147 Episoden können sich selbst Kostverweigerer nicht komplett entziehen, denn spätestens am Montag ist der jeweils jüngste Fall ein Gesprächsthema unter Kollegen. Dass es immer wieder qualitative Ausreißer nach unten oder experimentelle Flops gibt, tut der inzwischen auch in sozialen Netzwerken breit diskutierten Marke erstaunlicherweise keinen Abbruch. Dann wird halt kollektiv gelästert. Der nächste „Tatort“kommt bestimmt.
Aber am runden Geburtstag stehen vor allem die Höhepunkte aus einem halben Jahrhundert im Mittelpunkt. Und davon gab es jede Menge: Unvergessen bleibt Götz George als schnoddriger Ruhrpott-kommissar Schimanski mit M-65-feldjacke. Legendär der Auftritt der jungen Nastassja
Kinski in „Reifezeugnis“über eine tödliche Liaison zwischen einem Lehrer und seiner Schülerin. Uneingeholt ist Curd Jürgens als Mörder im Stuttgarter Fall „Rot – rot – tot“mit mehr als 26 Millionen Zuschauern.
Themen wie Rechtsextremismus, Terrorismus, Menschenhandel, Landminen oder Künstliche Intelligenz greifen die Macher auf. Im „Tatort“schwingt damit oft Sozialkritik mit. Das gehört zum Markenkern – Banalität findet auf anderen Kanälen statt. Der moralische Zeigefinger, der sich
Experimente tun der Marke „Tatort“keinen Abbruch. Dann wird halt kollektiv gelästert.
dabei immer mal wieder vor den Augen der Zuschauer erhebt, kann durchaus nerven. Knüppeldick kommt es, wenn die fiktiven Kommissare zusätzlich noch selbst mit Depressionen, Alkoholsucht oder Eheproblemen zu kämpfen haben. Erfrischend sind dann Witz, Ironie und Satire, wie es die Tatort-teams in Münster oder Weimar verkörpern, die viele junge Zuschauer an das Format binden. Doch auch hier ist der Grat zwischen guter, spannender Unterhaltung und Effekthascherei schmal.
Dass es 22 höchst unterschiedliche Ermittler-teams nicht allen recht machen können, liegt jedoch in der Natur der Sache. Selbst das ist ein Teil der Erfolgsgeschichte. Der „Tatort“ist ein Produkt für die Massen, das zugleich Nischen für persönliche Vorlieben bietet. Ein paar Lieblinge reichen, und man gehört zur Großfamilie dazu.
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