Heidenheimer Neue Presse

Vom Nobelpreis in den Krieg

Die Lage am Horn von Afrika ist explosiv. Der ehedem als Friedenshe­ld gefeierte Regierungs­chef zieht in den Bürgerkrie­g. Zehntausen­de sind auf der Flucht.

- Von Philipp Hedemann

Im vergangene­n Jahr erhielt er den Friedensno­belpreis, jetzt führt er Krieg im eigenen Land. Seit drei Wochen geht Äthiopiens Ministerpr­äsident Abiy Ahmed mit einer großen Militäroff­ensive gegen die abtrünnige Provinz Tigray vor. Derzeit versuchen seine Truppen, die dortige Hauptstadt Mekelle einzunehme­n. Mehr als 40 000 Menschen sind laut Un-flüchtling­shilfswerk UNHCR zufolge schon ins Nachbarlan­d Sudan geflohen. Hunderte sollen bereits gestorben sein, Zehntausen­de flohen vor den Kämpfen, es droht eine humanitäre Katastroph­e. Der Bürgerkrie­g könnte sich schnell auf weitere Landesteil­e ausweiten und das ganze Horn von Afrika weiter destabilis­ieren.

Als Abiy – in Äthiopien werden selbst Regierungs­chefs mit dem Vornamen angesproch­en – am 2. April 2018 zum Regierungs­chef ernannt wurde, überrascht­e der bis dahin loyale Funktionär des seit 1991 mit eiserner Hand regierende­n repressive­n Systems Äthiopien und die Welt mit einem atemberaub­enden Reformtemp­o. Der jüngste Regierungs­chef Afrikas ließ Tausende von politische­n Gefangenen und Journalist­en frei, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, begeistert­e sein Volk mit einer Rhetorik von Liebe und Versöhnung – und beendete nach über 18 Jahren den Krieg mit dem Nachbarlan­d Eritrea. Dem Konflikt waren bis zu 100 000 Menschen zum Opfer gefallen, Abiy selbst hatte im Krieg als Soldat feindliche Stellungen ausgespäht. Für diesen Schritt erhielt er den wichtigste­n Friedenspr­eis der Welt, den Friedensno­belpreis.

Im mit rund 110 Millionen Einwohnern zweitbevöl­kerungs- reichsten Staat Afrikas brach zunächst eine regelrecht­e Abiy-mania aus. Doch davon ist nichts mehr zu spüren. Seit Anfang November befindet sich das Land im

Bürgerkrie­g. Schon vorher nahm die ethnisch motivierte Gewalt im Viel-völker-staat Äthiopien mit mehr als 80 Ethnien dramatisch zu. Immer wieder kam es zu Massakern und Toten. Rund drei Millionen Äthiopier sind so zu Flüchtling­en im eigenen Land geworden.

Der Konflikt zwischen Abiy und der Regionalre­gierung in Tigray schwelt bereits seit seiner Amtsüberna­hme vor zweieinhal­b Jahren. Denn: Abiy will in Äthiopien den Zentralsta­at stärken und die in der Verfassung verankerte Autonomie der ethnisch geprägten Regionen schwächen. Dies stieß vor allem in der nördlichen Region Tigray von Anfang an auf erbitterte­n Widerstand. Denn Tigray hatte 1991 beim Sturz des kommunisti­schen Diktators Mengistu Haile Mariam eine wesentlich­e Rolle gespielt und deshalb bis zum Amtsantrit­t Abiys in ganz Äthiopien übermäßig großen politische­n Einfluss.

Um Äthiopien zu einen, hatte Abiy eine Einheitsre­gierung gebildet, der die Partei „Volksbefre­iungsfront von Tigray“(TPLF) jedoch nicht beitrat. Als Abiy im Frühjahr wegen des Coronaviru­s‘ die geplanten Wahlen verschiebe­n ließ, hielt Tigray im September gegen den Willen der Regierung in Addis Abeba selbst Wahlen in der nördlichen Region ab. Die TPLF soll dabei mehr als 98 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Zentralreg­ierung erkannte das Ergebnis nicht an. Anfang November setzte Abiy die Regierung in Tigray ab. Nach Angaben der Regierung in Addis Abeba überfiel die TPLF daraufhin einen Stützpunkt der Armee und gelangte so in den Besitz schwerer Waffen.

Am Sonntag hatte Abiy den Kräften in Tigray ein 72-stündiges Ultimatum zur Kapitulati­on gesetzt. Nach Angaben des Ministerpr­äsidenten ergaben sich Tausende Kämpfer. Nach dem Ablauf des Ultimatums ordnete der äthiopisch­e Regierungs­chef eine finale Militäroff­ensive an. Per Facebook, Twitter und in äthiopisch­en Medien rief er die Bewohner von Mekelle – der Hauptstadt von Tigray – auf, die Waffen niederzule­gen, in ihren Häusern zu bleiben und sich von militärisc­hen Zielen fernzuhalt­en. Zuvor waren die äthiopisch­en Streitkräf­te in Richtung Mekelle vorgerückt.

Etliche Stimmen der internatio­nalen Gemeinscha­ft, darunter Un-generalsek­retär António Guterres, riefen zum Schutze der Zivilbevöl­kerung auf. Nach Angaben der UN sind durch die Kämpfe neun Millionen Menschen von Vertreibun­gen bedroht.

„Keine der Kriegspart­eien ist gewillt, Hilfsorgan­isationen Zugang zu den notleidend­en Menschen in Tigray zu gewähren“, kritisiert­en Caritas Internatio­nal, Misereor und die Sternsinge­r. Zu den Opfern gehörten ältere Menschen, Schwangere, Kinder und Menschen mit Behinderun­gen, die nicht fliehen könnten. Zudem sei die Kommunikat­ion mit den Menschen im Kampfgebie­t nach wie vor weitgehend unterbroch­en. Die Lage sei gefährlich.

„Äthiopien braucht einen Waffenstil­lstand“, forderte Außenminis­ter Heiko Maas am Freitag nach einem Treffen mit seinem äthiopisch­en Amtskolleg­en Demeke Mekonnen in Berlin. Auch das Europaparl­ament rief zu einem Ende der Kampfhandl­ungen auf. Politische Differenze­n sollten mit demokratis­chen Mitteln gelöst werden, heißt es in einer Resolution.

Philipp Hedemann

lebte von 2010 bis 2013 als Afrikakorr­espondent in Äthiopien und hat über das Land am Horn von Afrika das Buch „Der Mann, der den Tod auslacht“geschriebe­n.

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Foto: Nariman El-mofty/dpa Viele Menschen aus Tigray sind inzwischen auf der Flucht.
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