Vom Nobelpreis in den Krieg
Die Lage am Horn von Afrika ist explosiv. Der ehedem als Friedensheld gefeierte Regierungschef zieht in den Bürgerkrieg. Zehntausende sind auf der Flucht.
Im vergangenen Jahr erhielt er den Friedensnobelpreis, jetzt führt er Krieg im eigenen Land. Seit drei Wochen geht Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed mit einer großen Militäroffensive gegen die abtrünnige Provinz Tigray vor. Derzeit versuchen seine Truppen, die dortige Hauptstadt Mekelle einzunehmen. Mehr als 40 000 Menschen sind laut Un-flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge schon ins Nachbarland Sudan geflohen. Hunderte sollen bereits gestorben sein, Zehntausende flohen vor den Kämpfen, es droht eine humanitäre Katastrophe. Der Bürgerkrieg könnte sich schnell auf weitere Landesteile ausweiten und das ganze Horn von Afrika weiter destabilisieren.
Als Abiy – in Äthiopien werden selbst Regierungschefs mit dem Vornamen angesprochen – am 2. April 2018 zum Regierungschef ernannt wurde, überraschte der bis dahin loyale Funktionär des seit 1991 mit eiserner Hand regierenden repressiven Systems Äthiopien und die Welt mit einem atemberaubenden Reformtempo. Der jüngste Regierungschef Afrikas ließ Tausende von politischen Gefangenen und Journalisten frei, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, begeisterte sein Volk mit einer Rhetorik von Liebe und Versöhnung – und beendete nach über 18 Jahren den Krieg mit dem Nachbarland Eritrea. Dem Konflikt waren bis zu 100 000 Menschen zum Opfer gefallen, Abiy selbst hatte im Krieg als Soldat feindliche Stellungen ausgespäht. Für diesen Schritt erhielt er den wichtigsten Friedenspreis der Welt, den Friedensnobelpreis.
Im mit rund 110 Millionen Einwohnern zweitbevölkerungs- reichsten Staat Afrikas brach zunächst eine regelrechte Abiy-mania aus. Doch davon ist nichts mehr zu spüren. Seit Anfang November befindet sich das Land im
Bürgerkrieg. Schon vorher nahm die ethnisch motivierte Gewalt im Viel-völker-staat Äthiopien mit mehr als 80 Ethnien dramatisch zu. Immer wieder kam es zu Massakern und Toten. Rund drei Millionen Äthiopier sind so zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden.
Der Konflikt zwischen Abiy und der Regionalregierung in Tigray schwelt bereits seit seiner Amtsübernahme vor zweieinhalb Jahren. Denn: Abiy will in Äthiopien den Zentralstaat stärken und die in der Verfassung verankerte Autonomie der ethnisch geprägten Regionen schwächen. Dies stieß vor allem in der nördlichen Region Tigray von Anfang an auf erbitterten Widerstand. Denn Tigray hatte 1991 beim Sturz des kommunistischen Diktators Mengistu Haile Mariam eine wesentliche Rolle gespielt und deshalb bis zum Amtsantritt Abiys in ganz Äthiopien übermäßig großen politischen Einfluss.
Um Äthiopien zu einen, hatte Abiy eine Einheitsregierung gebildet, der die Partei „Volksbefreiungsfront von Tigray“(TPLF) jedoch nicht beitrat. Als Abiy im Frühjahr wegen des Coronavirus‘ die geplanten Wahlen verschieben ließ, hielt Tigray im September gegen den Willen der Regierung in Addis Abeba selbst Wahlen in der nördlichen Region ab. Die TPLF soll dabei mehr als 98 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Zentralregierung erkannte das Ergebnis nicht an. Anfang November setzte Abiy die Regierung in Tigray ab. Nach Angaben der Regierung in Addis Abeba überfiel die TPLF daraufhin einen Stützpunkt der Armee und gelangte so in den Besitz schwerer Waffen.
Am Sonntag hatte Abiy den Kräften in Tigray ein 72-stündiges Ultimatum zur Kapitulation gesetzt. Nach Angaben des Ministerpräsidenten ergaben sich Tausende Kämpfer. Nach dem Ablauf des Ultimatums ordnete der äthiopische Regierungschef eine finale Militäroffensive an. Per Facebook, Twitter und in äthiopischen Medien rief er die Bewohner von Mekelle – der Hauptstadt von Tigray – auf, die Waffen niederzulegen, in ihren Häusern zu bleiben und sich von militärischen Zielen fernzuhalten. Zuvor waren die äthiopischen Streitkräfte in Richtung Mekelle vorgerückt.
Etliche Stimmen der internationalen Gemeinschaft, darunter Un-generalsekretär António Guterres, riefen zum Schutze der Zivilbevölkerung auf. Nach Angaben der UN sind durch die Kämpfe neun Millionen Menschen von Vertreibungen bedroht.
„Keine der Kriegsparteien ist gewillt, Hilfsorganisationen Zugang zu den notleidenden Menschen in Tigray zu gewähren“, kritisierten Caritas International, Misereor und die Sternsinger. Zu den Opfern gehörten ältere Menschen, Schwangere, Kinder und Menschen mit Behinderungen, die nicht fliehen könnten. Zudem sei die Kommunikation mit den Menschen im Kampfgebiet nach wie vor weitgehend unterbrochen. Die Lage sei gefährlich.
„Äthiopien braucht einen Waffenstillstand“, forderte Außenminister Heiko Maas am Freitag nach einem Treffen mit seinem äthiopischen Amtskollegen Demeke Mekonnen in Berlin. Auch das Europaparlament rief zu einem Ende der Kampfhandlungen auf. Politische Differenzen sollten mit demokratischen Mitteln gelöst werden, heißt es in einer Resolution.
Philipp Hedemann
lebte von 2010 bis 2013 als Afrikakorrespondent in Äthiopien und hat über das Land am Horn von Afrika das Buch „Der Mann, der den Tod auslacht“geschrieben.