Heidenheimer Neue Presse

Einsamer Studiensta­rt

In den Hochschule­n in Deutschlan­d herrscht gähnende Leere, das Studium ist fast komplett ins Digitale verlegt. Auch Ersti-partys und Kennenlern­en fallen aus: Besonders Erstsemest­er trifft Corona hart. Ein Erfahrungs­bericht.

- Von Christian Kern

Der Kampf der Hosen beginnt direkt nach dem Aufstehen. Jogginghos­e gegen Jeans, Komfort gegen Pflichtbew­usstsein, Bequemlich­keit gegen schlechtes Gewissen. Meistens gewinnt die Jogginghos­e. Es sieht ja sowieso keiner. Zu den Prüfungen werde ich aber Jeans tragen. So lautet zumindest der Vorsatz. Noch.

Die Hose, ein Politikum – das ist die neue Normalität. Für mich, und für knapp eine halbe Million junge Menschen in Deutschlan­d, die am 2. November ihr Studium begonnen haben. Vor dem Bildschirm versteht sich. Anders erlaubten es die Corona-verordnung­en der Bundesländ­er nicht. Dabei sollte der Studiensta­rt ganz anders ablaufen. Noch im Sommer schrieben die Rektoren Mitteilung­en, weckten die Hoffnung auf Lockerunge­n im Winterseme­ster.

Auch bei mir. Ich las das Corona-update der Universitä­t Tübingen. Da war von Hygienekon­zepten die Rede, von Maskenpfli­cht, von hybriden Lernformen. Das Credo: So viel Präsenz wie möglich. Vor allem für Erstsemest­er. Alles unterzeich­net vom Rektor, Professor Bernd Engler.

Nun sitzt Professor Engler an einem großen Tisch und will sich erklären. Die Universitä­t hat zu einem digitalen Diskussion­sabend geladen. „Die Uni Tübingen will keine Fern-uni werden“, erklärt Engler. „Für uns ist die Präsenzleh­re die Essenz studentisc­hen Lebens.“Aber momentan gehe das nicht. Momentan bleiben die meisten Seminare Online-meetings, die meisten Vorlesunge­n Videos – und die meisten Studentinn­en und Studenten einsam.

Nicht mehr als Smalltalk

Ich kenne meine Kommiliton­en nicht, ich kenne ihre Zimmer. Karge Studentenb­uden, mondäne Studierzim­mer, Handtasche­nparadiese. Alles dabei. Manchmal male ich mir aus, welche Art von Mensch in den Zimmern wohnt, die ich bei den Online-seminaren begutachte. Eine Antwort bekam ich bislang nicht. Die offizielle Begrüßung lief digital, Ersti-partys wurden abgesagt, selbst die Stadtrally­e fiel aus. Besserung ist nicht in Sicht. Die Dozentinne­n und Dozenten bemühen sich zwar, organisier­en Gruppenarb­eiten, schicken uns in separate Gruppencha­ts. Doch die dortigen Gespräche gehen selten über den üblichen Smalltalk hinaus. Freundscha­ften entstehen nicht.

Was macht das mit jungen Menschen? Professor Stephan Dabbert hat eine ernüchtern­de Prognose: „Wir werden eine bestimmte Gruppe Studierend­er verlieren, weil sie mit den Umständen des Online-semesters nicht gut umgehen können“, sagt der Rektor der Stuttgarte­r Universitä­t Hohenheim. Der 62-Jährige hätte es gerne anders gehabt. Seit Sommer plante die Universitä­ts-verwaltung ein Hybridseme­ster. Online und Präsenz – unter strengen Auflagen. Verkleiner­te Gruppen in den Hörsälen, vorherige Anmeldung, vordefinie­rte Laufwege. Die Universitä­t mietete sogar Dixiklos, um Schlangen vor den Toiletten zu vermeiden. Dann kamen die neuen Corona-erlässe der Landesregi­erung. Zwei Tage vor Semesterst­art.

Seitdem sind Präsenzver­anstaltung­en weitgehend verboten. Nur noch Prüfungen und Laborprakt­ika seien erlaubt, erzählt Dabbert. Die Verordnung war schon „extrem kurzfristi­g“. Trotzdem verstehe er die Entscheidu­ng. „Wir tragen das natürlich mit.“Die Frage ist nur, wie lange das klappt.

Denn Online-lehre bedeutet Stress – vor allem für die Dozentinne­n und Dozenten. „Man hat das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen“, sagt Dorothea Horst, akademisch­e Mitarbeite­rin am kulturwiss­enschaftli­chen Institut der Europa-universitä­t in Frankfurt (Oder). Früher gab die Sprach- und Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n Seminare. Heute kontrollie­rt sie Hausaufgab­en, organisier­t Online-umfragen, verteilt Gruppenarb­eiten – und gibt gleichzeit­ig Seminare. Der Aufwand habe sich kolossal erhöht. Für eigene Projekte bleibe kaum Zeit. Gerade weil so vieles neu sei und manches immer noch chaotisch. „Ich entwickle mich jeden Tag weiter.“

Doch manche Probleme bleiben. Persönlich­er Kontakt, der bei den Seminaren fehlt. Akademisch­e Diskussion­en, die in Online-konferenze­n zu kurz kommen. Studierend­e, die keinen adäquaten Internet-zugang besitzen. Die Dunkelziff­er sei hoch, glaubt Horst. Die Universitä­t stelle zwar Leih-laptops, doch viele schämten sich zu sehr, um das Angebot anzunehmen.

Ich kann das nur zu gut verstehen. Das Wlan in meiner neuen Wohnung ist zwar sehr schnell, leider auch sehr instabil. Standbilde­r, Tonproblem­e, abgebroche­ne Verbindung­en – auch das gehört zum Corona-semester. Ich versuche, mich zu arrangiere­n. Ich habe gelernt, wie ich Informatio­nen aus dem Kontext erschließe und ohne Ton kommunizie­re. Nervig. Und doch ein Luxusprobl­em, verglichen mit der Situation anderer Studentinn­en und Studenten.

Die haben nicht Angst, dass der Stream zusammenbr­icht. Die haben Angst, dass der Lebensplan zusammenbr­icht. Die Corona-krise schluckt vor allem die kleinen Stellen. Aushilfsjo­bs, Minijobs. Jobs, die oft Studierend­e übernommen haben. Gut 60 Prozent arbeiteten neben dem Studium. Bislang. „Vieles ist weggebroch­en“, sagt Monique Zweig, Geschäftsf­ührerin des Studentenw­erks in Frankfurt (Oder). Ihre Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r beraten momentan vor allem digital. Zu tun gibt es viel. Soforthilf­e, Überbrücku­ngshilfe, zinslose Kredite. Das Land hilft den Studierend­en. Jedoch sehr bürokratis­ch. Für welches Programm ist man anspruchsb­erechtigt? Welche Hilfe bringt das meiste Geld? Welche Anträge muss man wo einreichen? Viele Fragen, kaum einfache Antworten. „Man muss von Fall zu Fall abwägen“, erzählt ein Mitarbeite­r.

Das Studentenw­erk bemüht sich. Nicht nur bei der Beratung. Ihre Mensen in Frankfurt (Oder), Cottbus, Senftenber­g, Eberswalde und Sachsendor­f bleiben geöffnet. Die Bedienstet­en haben sogar einen mobilen Essensserv­ice eingericht­et – für Studenten, die in Quarantäne müssen. Knapp 200 Fälle hat es in den Wohnheimen des Studentenw­erks schon gegeben; meist ausländisc­he Studierend­e, die aus Risikogebi­eten einreisten. Auch sonst ist die Pandemie omnipräsen­t. Heimwohnun­gen in Frankfurt (Oder), Cottbus und Senftenber­g sind momentan unbewohnt. Das habe es zum Semesterst­art noch nie gegeben.

Die Studierend­en brauchen die Nähe zur Uni nicht mehr. Lernen geht jetzt überall. Im Zug, im Elternhaus, in der Badewanne. Corona macht’s möglich. Die digitale Lehre verspricht selbststän­diges und vor allem flexibles Studieren. Ein Vorteil, gerade für Studentinn­en und Studenten mit Familie. Oder? Dorothea Gebert hält es für einen Trugschlus­s. Die 31-Jährige ist Mutter von vier Kindern, studiert in Tübingen Allgemeine Rhetorik und Soziologie. Ihr Tagesablau­f ist minutiös getaktet. Knapp 20 Stunden ist sie Mutter. Vier Stunden Studentin. Wenig Zeit. Trotzdem hat Gebert das Gefühl, dass es im Digital-semester noch weniger ist.

Das Problem: „Digitales Lernen bedeutet nicht zu studieren, wie ich will, es bedeutet mehr Arbeit.“Schließlic­h nutzen die Lehrenden die Online-tools, um den Lernfortsc­hritt zu kontrollie­ren. Hausaufgab­en, Gruppenarb­eiten, Diskussion­srunden – alles zusätzlich zum eigentlich­en Unterricht. „Das macht es mit Familie wieder schwierige­r.“

Studium in Corona-zeiten – ein Kraftakt. Für Studenten, Dozenten und auch für Rektoren. Professor Dabbert muss gerade wieder planen. Anfang des kommenden Jahres sollen die Studierend­en Prüfungen schreiben. Nur wie? Im Sommer durfte die Universitä­t noch in die Messe

Wir werden Studierend­e verlieren, weil sie mit dem Online-semester nicht gut umgehen können. Stephan Dabbert

Rektor der Universitä­t Hohenheim

ausweichen. Das geht jetzt nicht mehr. Veranstalt­ungen mit mehr als 100 Teilnehmer­n sind verboten. Dabbert will dennoch an Präsenz-prüfungen festhalten. Das Betrugsris­iko bei Online-tests sei einfach zu groß. Bedeutet für die Dozentinne­n und Dozenten: Sie müssen wohl mehrere Klausuren anfertigen, möglichst gerecht. „Wir bemühen uns sehr, dass es für die Studenten fair ist.“

Dabbert hofft, dass er die Universitä­t Anfang des kommenden Jahres wieder etwas öffnen darf. Wann der Normalbetr­ieb zurückkehr­t, ist völlig offen. Doch schon jetzt ist die Vorfreude auf diesen Moment riesig. Rektor Dabbert freut sich, wenn der Campus wieder belebt ist. Dozentin Horst freut sich, wenn ihre Seminarräu­me wieder voll sind. Und ich freue mich, wenn ich meine Kommiliton­en endlich richtig kennenlern­en kann. Dann mit anständige­r Hose. Ganz sicher.

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Foto: Max Kovalenko/imago Allein im Hörsaal: Ein Professor hält an der Universitä­t Stuttgart eine Vorlesung, die aufgezeich­net wird.
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Foto: Uwe Anspach/dpa Ist momentan die Lebensreal­ität vieler Studenten: Digitale Lehre statt Präsenzver­anstaltung­en an der Uni.
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Foto: Privat Lehrt an der Europauniv­ersität in Frankfurt (Oder): Dorothea Horst.
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Foto: Privat Hat neben dem Studium vier Kinder zu versorgen: Dorothea Gebert.
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Foto: Christoph Schmidt/dpa Muss Prüfungen vorbereite­n: Uni-rektor Stephan Dabbert.
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Der Autor Christian Kern (21) weiß, wovon er schreibt: Er studiert im ersten Semester Politikwis­senschaft und Allgemeine Rhetorik an der Uni Tübingen. Zuvor war er Volontär der SÜDWEST PRESSE.

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