Einsamer Studienstart
In den Hochschulen in Deutschland herrscht gähnende Leere, das Studium ist fast komplett ins Digitale verlegt. Auch Ersti-partys und Kennenlernen fallen aus: Besonders Erstsemester trifft Corona hart. Ein Erfahrungsbericht.
Der Kampf der Hosen beginnt direkt nach dem Aufstehen. Jogginghose gegen Jeans, Komfort gegen Pflichtbewusstsein, Bequemlichkeit gegen schlechtes Gewissen. Meistens gewinnt die Jogginghose. Es sieht ja sowieso keiner. Zu den Prüfungen werde ich aber Jeans tragen. So lautet zumindest der Vorsatz. Noch.
Die Hose, ein Politikum – das ist die neue Normalität. Für mich, und für knapp eine halbe Million junge Menschen in Deutschland, die am 2. November ihr Studium begonnen haben. Vor dem Bildschirm versteht sich. Anders erlaubten es die Corona-verordnungen der Bundesländer nicht. Dabei sollte der Studienstart ganz anders ablaufen. Noch im Sommer schrieben die Rektoren Mitteilungen, weckten die Hoffnung auf Lockerungen im Wintersemester.
Auch bei mir. Ich las das Corona-update der Universität Tübingen. Da war von Hygienekonzepten die Rede, von Maskenpflicht, von hybriden Lernformen. Das Credo: So viel Präsenz wie möglich. Vor allem für Erstsemester. Alles unterzeichnet vom Rektor, Professor Bernd Engler.
Nun sitzt Professor Engler an einem großen Tisch und will sich erklären. Die Universität hat zu einem digitalen Diskussionsabend geladen. „Die Uni Tübingen will keine Fern-uni werden“, erklärt Engler. „Für uns ist die Präsenzlehre die Essenz studentischen Lebens.“Aber momentan gehe das nicht. Momentan bleiben die meisten Seminare Online-meetings, die meisten Vorlesungen Videos – und die meisten Studentinnen und Studenten einsam.
Nicht mehr als Smalltalk
Ich kenne meine Kommilitonen nicht, ich kenne ihre Zimmer. Karge Studentenbuden, mondäne Studierzimmer, Handtaschenparadiese. Alles dabei. Manchmal male ich mir aus, welche Art von Mensch in den Zimmern wohnt, die ich bei den Online-seminaren begutachte. Eine Antwort bekam ich bislang nicht. Die offizielle Begrüßung lief digital, Ersti-partys wurden abgesagt, selbst die Stadtrallye fiel aus. Besserung ist nicht in Sicht. Die Dozentinnen und Dozenten bemühen sich zwar, organisieren Gruppenarbeiten, schicken uns in separate Gruppenchats. Doch die dortigen Gespräche gehen selten über den üblichen Smalltalk hinaus. Freundschaften entstehen nicht.
Was macht das mit jungen Menschen? Professor Stephan Dabbert hat eine ernüchternde Prognose: „Wir werden eine bestimmte Gruppe Studierender verlieren, weil sie mit den Umständen des Online-semesters nicht gut umgehen können“, sagt der Rektor der Stuttgarter Universität Hohenheim. Der 62-Jährige hätte es gerne anders gehabt. Seit Sommer plante die Universitäts-verwaltung ein Hybridsemester. Online und Präsenz – unter strengen Auflagen. Verkleinerte Gruppen in den Hörsälen, vorherige Anmeldung, vordefinierte Laufwege. Die Universität mietete sogar Dixiklos, um Schlangen vor den Toiletten zu vermeiden. Dann kamen die neuen Corona-erlässe der Landesregierung. Zwei Tage vor Semesterstart.
Seitdem sind Präsenzveranstaltungen weitgehend verboten. Nur noch Prüfungen und Laborpraktika seien erlaubt, erzählt Dabbert. Die Verordnung war schon „extrem kurzfristig“. Trotzdem verstehe er die Entscheidung. „Wir tragen das natürlich mit.“Die Frage ist nur, wie lange das klappt.
Denn Online-lehre bedeutet Stress – vor allem für die Dozentinnen und Dozenten. „Man hat das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen“, sagt Dorothea Horst, akademische Mitarbeiterin am kulturwissenschaftlichen Institut der Europa-universität in Frankfurt (Oder). Früher gab die Sprach- und Kommunikationswissenschaftlerin Seminare. Heute kontrolliert sie Hausaufgaben, organisiert Online-umfragen, verteilt Gruppenarbeiten – und gibt gleichzeitig Seminare. Der Aufwand habe sich kolossal erhöht. Für eigene Projekte bleibe kaum Zeit. Gerade weil so vieles neu sei und manches immer noch chaotisch. „Ich entwickle mich jeden Tag weiter.“
Doch manche Probleme bleiben. Persönlicher Kontakt, der bei den Seminaren fehlt. Akademische Diskussionen, die in Online-konferenzen zu kurz kommen. Studierende, die keinen adäquaten Internet-zugang besitzen. Die Dunkelziffer sei hoch, glaubt Horst. Die Universität stelle zwar Leih-laptops, doch viele schämten sich zu sehr, um das Angebot anzunehmen.
Ich kann das nur zu gut verstehen. Das Wlan in meiner neuen Wohnung ist zwar sehr schnell, leider auch sehr instabil. Standbilder, Tonprobleme, abgebrochene Verbindungen – auch das gehört zum Corona-semester. Ich versuche, mich zu arrangieren. Ich habe gelernt, wie ich Informationen aus dem Kontext erschließe und ohne Ton kommuniziere. Nervig. Und doch ein Luxusproblem, verglichen mit der Situation anderer Studentinnen und Studenten.
Die haben nicht Angst, dass der Stream zusammenbricht. Die haben Angst, dass der Lebensplan zusammenbricht. Die Corona-krise schluckt vor allem die kleinen Stellen. Aushilfsjobs, Minijobs. Jobs, die oft Studierende übernommen haben. Gut 60 Prozent arbeiteten neben dem Studium. Bislang. „Vieles ist weggebrochen“, sagt Monique Zweig, Geschäftsführerin des Studentenwerks in Frankfurt (Oder). Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beraten momentan vor allem digital. Zu tun gibt es viel. Soforthilfe, Überbrückungshilfe, zinslose Kredite. Das Land hilft den Studierenden. Jedoch sehr bürokratisch. Für welches Programm ist man anspruchsberechtigt? Welche Hilfe bringt das meiste Geld? Welche Anträge muss man wo einreichen? Viele Fragen, kaum einfache Antworten. „Man muss von Fall zu Fall abwägen“, erzählt ein Mitarbeiter.
Das Studentenwerk bemüht sich. Nicht nur bei der Beratung. Ihre Mensen in Frankfurt (Oder), Cottbus, Senftenberg, Eberswalde und Sachsendorf bleiben geöffnet. Die Bediensteten haben sogar einen mobilen Essensservice eingerichtet – für Studenten, die in Quarantäne müssen. Knapp 200 Fälle hat es in den Wohnheimen des Studentenwerks schon gegeben; meist ausländische Studierende, die aus Risikogebieten einreisten. Auch sonst ist die Pandemie omnipräsent. Heimwohnungen in Frankfurt (Oder), Cottbus und Senftenberg sind momentan unbewohnt. Das habe es zum Semesterstart noch nie gegeben.
Die Studierenden brauchen die Nähe zur Uni nicht mehr. Lernen geht jetzt überall. Im Zug, im Elternhaus, in der Badewanne. Corona macht’s möglich. Die digitale Lehre verspricht selbstständiges und vor allem flexibles Studieren. Ein Vorteil, gerade für Studentinnen und Studenten mit Familie. Oder? Dorothea Gebert hält es für einen Trugschluss. Die 31-Jährige ist Mutter von vier Kindern, studiert in Tübingen Allgemeine Rhetorik und Soziologie. Ihr Tagesablauf ist minutiös getaktet. Knapp 20 Stunden ist sie Mutter. Vier Stunden Studentin. Wenig Zeit. Trotzdem hat Gebert das Gefühl, dass es im Digital-semester noch weniger ist.
Das Problem: „Digitales Lernen bedeutet nicht zu studieren, wie ich will, es bedeutet mehr Arbeit.“Schließlich nutzen die Lehrenden die Online-tools, um den Lernfortschritt zu kontrollieren. Hausaufgaben, Gruppenarbeiten, Diskussionsrunden – alles zusätzlich zum eigentlichen Unterricht. „Das macht es mit Familie wieder schwieriger.“
Studium in Corona-zeiten – ein Kraftakt. Für Studenten, Dozenten und auch für Rektoren. Professor Dabbert muss gerade wieder planen. Anfang des kommenden Jahres sollen die Studierenden Prüfungen schreiben. Nur wie? Im Sommer durfte die Universität noch in die Messe
Wir werden Studierende verlieren, weil sie mit dem Online-semester nicht gut umgehen können. Stephan Dabbert
Rektor der Universität Hohenheim
ausweichen. Das geht jetzt nicht mehr. Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern sind verboten. Dabbert will dennoch an Präsenz-prüfungen festhalten. Das Betrugsrisiko bei Online-tests sei einfach zu groß. Bedeutet für die Dozentinnen und Dozenten: Sie müssen wohl mehrere Klausuren anfertigen, möglichst gerecht. „Wir bemühen uns sehr, dass es für die Studenten fair ist.“
Dabbert hofft, dass er die Universität Anfang des kommenden Jahres wieder etwas öffnen darf. Wann der Normalbetrieb zurückkehrt, ist völlig offen. Doch schon jetzt ist die Vorfreude auf diesen Moment riesig. Rektor Dabbert freut sich, wenn der Campus wieder belebt ist. Dozentin Horst freut sich, wenn ihre Seminarräume wieder voll sind. Und ich freue mich, wenn ich meine Kommilitonen endlich richtig kennenlernen kann. Dann mit anständiger Hose. Ganz sicher.