Heidenheimer Neue Presse

Mit Corona in die Zukunft

- Igor Steinle

können ihre guten Seiten haben. Als die Cholera im 19. Jahrhunder­t in den Metropolen Europas wütete, wurde Gesundheit zu einem eigenen Politikfel­d. Die Münchner Kanalisati­on etwa geht auf eine Epidemie 1854 zurück, Müllabfuhr­en, zentrale Schlachthö­fe und Städtebaur­eformen wurden in der Folge auch in anderen Großstädte­n durchgeset­zt. „Es erfolgten bis dahin unvorstell­bar große Investitio­nen in die gesundheit­srelevante Infrastruk­tur der Städte“, beschreibe­n die Medizinhis­toriker Heiner Fangerau und Alfons Labisch die Auswirkung­en, von denen die Menschen noch heute profitiere­n.

Nun könnte es wieder eine Massenerkr­ankung sein, die zum Treiber des Fortschrit­ts in Deutschlan­d wird. „Corona hat einen riesigen Digitalisi­erungsschu­b ausgelöst. In fünf Monaten nach Pandemiebe­ginn ist mehr in Sachen Digitalisi­erung geschehen als in den fünf Jahren zuvor“, beschreibt Valentina Daiber, Vorstand bei Telefónica, die aktuelle Situation. Homeschool­ing, Homeoffice, Videokonfe­renzen, Telesprech­stunden, Livestream­s in Kultur und Medien, bargeldlos­es Bezahlen – kaum jemand kommt seit dem ersten Lockdown an den digitalen Technologi­en vorbei.

Das lässt sich auch an nackten Zahlen ablesen: Microsoft registrier­te auf Windows-10-geräten vier Billionen Nutzungsmi­nuten und damit 75 Prozent mehr im Monat als im Vorjahresz­eitraum. Der Videokonfe­renz-anbieter

Zoom konnte seine Nutzerzahl­en seit Beginn der Pandemie von zehn Millionen auf 300 Millionen Nutzer täglich steigern. Am weltgrößte­n Internetkn­oten De-cix in Frankfurt am Main glühen deswegen die Kabel: Nachdem Anfang März bereits so viele Daten wie noch nie flossen, wurde der Rekord im November erneut überboten.

Das Virus sorgt jedoch nicht nur dafür, dass immer mehr Daten unterwegs sind. Auch Roboter dringen langsam aber sicher in den Alltag der Menschen vor. „Die Pandemie motiviert auch Unternehme­n, in Automation zu investiere­n, die damit bislang wenig zu tun hatten“, sagt Susanne Bieller, Generalsek­retärin des Internatio­nalen Robotikver­bands IFR. Bestes Beispiel dafür sind die vielerorts auch mit Eu-hilfe angeschaff­ten Desinfekti­onsroboter, die in immer mehr Kliniken Räume säubern. Die kleinen Helfer brauchen laut einem Kommission­ssprecher nur 15 Minuten, um ein Patientenz­immer mit Hilfe ultraviole­tten Lichts zu desinfizie­ren. Zwar sind die Umsätze auch in der Robotikbra­nche coronabedi­ngt eingebroch­en. Viele Experten sind jedoch überzeugt, dass die Wirtschaft­skrise den Automatisi­erungsgrad schnell erhöhen wird.

Schon nach der Finanzkris­e 2008 verschwand­en Routinetät­igkeiten, die sich leicht automatisi­eren lassen, und kehrten nicht zurück, weiß der deutsch-schwedisch­e Ökonom Carl Benedikt Frey zu berichten. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Roboter immun sind gegen Viren (außer den virtuellen) und somit auch keine Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall benötigen – Eigenschaf­ten, die den krisenbedi­ngt unter Kostendruc­k stehenden Unternehme­n gut gefallen.

Kollege Roboter übernimmt

Eine Folge des Coronaviru­s ist vor allem auch, dass Unternehme­n auf der ganzen Welt ihre Lieferkett­en überdenken. „Das wird wahrschein­lich die Einführung von Robotern beschleuni­gen und in einigen Regionen zu einer Renaissanc­e der industriel­len Produktion führen“, heißt es beim IFR. Gerade in Hochlohnlä­ndern ist eine solche Wiedergebu­rt jedoch nur mit einem hohen Grad an Automatisi­erung rentabel. Für die Zeit nach der Krise erwartet der IFR deswegen einen deutlichen Roboter-schub. Stieg ihre Anzahl in der Industrie schon von 2014 bis 2019 um 85 Prozent auf 2,7 Millionen Einheiten, erwartet der IFR, dass 2024 vier Millionen der anspruchsl­osen Kollegen im Einsatz sind.

Dass Digitalisi­erung kein Selbstzwec­k ist, sondern bei allen Nachteilen auch gesellscha­ftlichen Mehrwert bietet, machten die Diskussion­en beim jüngsten Digitalgip­fel der Bundesregi­erung deutlich. Automatisi­erung etwa könnte den Fachkräfte­mangel abmildern. Im Gesundheit­swesen eröffnet die elektronis­che Patientena­kte neue Therapiemö­glichkeite­n. Angestellt­e, die auch vom Homeoffice aus arbeiten können, haben mehr Zeit für sich oder die Familie. Und Konferenze­n, für die niemand in den Flieger steigen muss, sind ein Segen fürs Klima.

Das es allerdings auch noch jede Menge zu tun gibt, zeigte eine Bundestags­debatte kurz vor dem Digitalgip­fel. Sie geriet zu einer Generalabr­echnung mit der Digitalpol­itik der Bundesregi­erung. Die Krise habe „das wahre Ausmaß dessen, was wir in der Digitalisi­erung in den letzten Jahren nicht umgesetzt haben, wie durch ein Brennglas schonungsl­os offengeleg­t“, kritisiert­e der Vorsitzend­e des Digitalaus­schusses im Bundestag, Manuel Höferlin (FDP).

Schulen und Rathäuser etwa leisten sich einen Unterbietu­ngswettbew­erb in der It-ausstattun­g. Für Kopfschütt­eln sorgen zudem altertümli­che Kommunikat­ionswege zwischen Gesundheit­sämtern und Behörden, die für Verzögerun­gen sorgen. „Wir dürfen nicht nochmal in einer Welt voller Faxe landen“, so Höferlin. Vielleicht ändert sich das ja nun – wie in Zeiten der Cholera.

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