Heidenheimer Neue Presse

Mit dem „Tübinger Weg“gegen Corona

Alle Welt spricht vom Schutz der Risikogrup­pen. In Tübingen wird schon seit Monaten vieles getan, um das Virus von Senioren und aus Pflegeheim­en fernzuhalt­en. Nun macht das Vorbild Schule.

- Tübinger Notärztin Von Lisa Maria Sporrer

Dass Tübingen als erste deutsche Stadt den „schwedisch­en Weg“gehe, stimme nur hinsichtli­ch eines einzigen Aspekts, sagt OB Boris Palmer (Grüne), nachdem nicht nur die Bild-zeitung den Sonderweg der Universitä­tsstadt in der Corona-krise mit Schweden verglichen hatte. Diesen einzigen Aspekt benennt Palmer so: „Dass wir unser Konzept zum Schutz der Älteren in der Stadt auf Freiwillig­keit und auf Appellen aufbauen und nicht auf Bußgeldern und Verboten.“Ansonsten habe man nichts mit Schweden gemeinsam.

Wenn es um alternativ­e Strategien zu allgemeine­n Lockdowns geht, ist immer wieder vom Schutz der Risikogrup­pen die Rede; unter anderem der Virologe Hendrik Streeck fordert, Barrieren in der Gesellscha­ft einzuricht­en, die besonders gefährdete Gruppen besser schützen. In Tübingen wird das seit Monaten probiert. Funktionie­rt es? Und kann die Universitä­tsstadt zum Vorbild für andere werden?

Am 1. November hatte sich die Tübinger Stadtspitz­e mit dem Unikliniku­ms-chef und der Notärztin Lisa Federle mit einem „Tübinger Appell“an die Bevölkerun­g gewandt. Palmer rief zu „Bürgersinn und Verantwort­ung“auf – und stellte weitere Konzepte zum Schutz der Älteren vor: Zeitfenste­r für die Risikogrup­pen für Einkäufe, kostenlose Ffp2-masken für Menschen über 65 und ein Anrufsamme­ltaxi, damit Senioren nicht mehr die teils vollen Busse nutzen müssen.

Die aktuellen Infektions­zahlen geben der Tübinger Strategie recht: Während die Landesregi­erung wegen des hohen Infektions­geschehens aktuell Ausgangsbe­schränkung­en für Hotspots plant, gehen die Infektions­zahlen im Kreis Tübingen seit Wochen kontinuier­lich zurück. Und während das Virus sich in der zweiten Welle erneut in vielen Altenheime­n ausbreitet­e und dutzende Todesfälle zu beklagen waren, wurde bisher kein einziger Corona-fall in den Tübinger Einrichtun­gen registrier­t. Das, sagt Lisa Federle, habe ganz sicher auch etwas mit der Teststrate­gie zu tun.

Schon im März, kurz nachdem im Südwesten der erste Corona-fall aufgetrete­n war, nahm die Notärztin mit ihrer mobilen Arztpraxis in Tübingen Abstriche von Reiserückk­ehrern. Dass die „Tübinger Teststrate­gie“Vorbild werden sollte, ist in erster Linie Lisa Federle zu verdanken. Auch ihr ging es um die Risikogrup­pe, die Alten.

Anfang April parkte die mobile Arztpraxis vor einem Tübinger

Pflegeheim. Verdachtsf­älle gab es keine, auch keine bestätigte­n Covid-19-infektione­n. „Aber um uns da sicher zu sein, müssen wir einfach testen“, begründete Federle seinerzeit ihr Vorhaben, alle Pflegeund Alteneinri­chtungen im Kreis anzufahren und Abstriche von Bewohnern und Mitarbeite­rn zu nehmen. „Alte Menschen dürfen nicht sterben, nur weil das keiner kontrollie­rt“, sagte sie – und legte sich damit schon früh mit dem Stuttgarte­r Sozialmini­sterium an. Nicht nur die kassenärzt­liche Vereinigun­g weigerte sich damals, die präventive­n Tests zu bezahlen, auch Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) wollte keine offizielle Testempfeh­lung für Alteneinri­chtungen ausspreche­n.

Als nach den Sommerferi­en die Infektions­zahlen stiegen, reagierte Tübingen erneut schnell: Nach ergebnislo­sen Anfragen Palmers bei Bund und Land stellte die Stadt in Eigenregie 250 000 Euro im Haushalt bereit, um zumindest das Personal von Alten- und Pflegeheim­en im 14-Tage-rhythmus auf Corona zu testen. „Die Achtung der Menschenwü­rde verbietet aus meiner Sicht falsche Sparsamkei­t an dieser Stelle“, sagte Palmer. Am 7. September startete das Projekt, das von Federle durchgefüh­rt wurde.

„Tatsächlic­h sind 22 Prozent der Menschen über 65 Jahre alt, und in dieser Altersgrup­pe haben wir 85 Prozent der Todesfälle zu beklagen. Das heißt, wir haben ein ziemlich einfaches Merkmal: Alter“, sagt Palmer. Eine Ausgrenzun­g, wie manche kritisiert­en, sieht er in den Gegenmaßna­hmen nicht, vielmehr habe er viele Dankesbrie­fe von Älteren und auch sehr berührende Mails als Dank erhalten. „Wir müssen uns einfach klar machen: Bei Menschen über 80 gab es 500 mal mehr Todesfälle als bei denen unter 40.

Dieses Virus ist extrem altersdisk­riminieren­d. Darüber klagen nutzt nichts“, sagt Palmer. Inzwischen schauen immer mehr Medien und Politiker genau hin, was in Tübingen passiert.

Momentan steht Federle mit dem Arztmobil fast täglich auf dem Tübinger Marktplatz, verteilt kostenlose Ffp-masken und macht Schnelltes­t-abstriche. Ursprüngli­ch

sollte es bei diesem Projekt wieder um die Alten gehen, jene, die Zuhause leben und nicht besucht werden, weil Angehörige Angst haben, eine unentdeckt­e Infektion mitzubring­en. Aber das Projekt, das über die Weihnachts­spendenakt­ion des „Schwäbisch­en Tagblatts“in Tübingen finanziert wird, ist mittlerwei­le ein bürgerscha­ftliches Projekt mit Modellchar­akter fürs Land geworden.

Nachdem Federle vor Wochen mit Sozialmini­ster Manfred Lucha scharf ins Gericht gegangen war und dem Sozialmini­sterium vorgeworfe­n hatte, zu spät und zu wenige Schnelltes­ts für die Altenheime bestellt zu haben, will Lucha nun nach einem Vier-augen-gespräch mit der Ärztin nicht nur Altenheime­n und Pflegeeinr­ichtungen möglichst schnell im Notfall Antigen-schnelltes­ts aus der Landesrese­rve zukommen lassen – das Projekt „Schnelltes­ts für alle“soll nun landesweit Schule machen. In mehr als 25 Städten will Lucha an Heiligaben­d auf zentralen Plätzen kostenlose Schnelltes­ts anbieten lassen. „Ich habe mich mit Dr. Federle darauf verständig­t, dass wir diese vorbildhaf­te vorweihnac­htliche Aktion landesweit übernehmen wollen“, so Lucha. Denn, das könne man von Tübingen lernen: In der Corona-pandemie müsse einem wirksamen Schutz der vulnerable­n Gruppen oberste Priorität zukommen.

Alte Menschen dürfen nicht sterben, nur weil das keiner kontrollie­rt.

Lisa Federle

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Foto: Ulrich Metz Kostenlose Schnelltes­ts für alle: Auch das ist ein Baustein in der Tübinger Strategie gegen Corona, die wesentlich auf Lisa Federle (rechts) und Boris Palmer zurückgeht. Im Bild nimmt die Notärztin einen bei Tübingens OB.

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