Heidenheimer Neue Presse

„Ein jeder wird geprellt“

Die Bayerische Staatsoper zeigt die „Falstaff“-premiere als Livestream – mit einer Hommage an das abwesende Publikum.

- Von Jürgen Kanold

Ich hätte auch gerne ein solches Glitzerkle­id wie Alice“, bemerkt eine Zuschaueri­n neidvoll. Die lustigen Weiber von Windsor, ja, sie tragen im Nationalth­eater modischen Fummel – und darunter auch mal Reizwäsche. Das fällt dem nicht weniger gut betuchten Münchner Publikum unweit der Edelboutiq­uen der Maximilian­straße natürlich auf. Allerdings zischt jetzt niemand ein böses „Psst“, weil das Geraune einer Vorderfrau den Musikgenus­s stört.

Denn da sitzt niemand, die Premiere von Giuseppe Verdis „Falstaff “läuft im Corona-lockdown ohne Publikum ab, sie war am Mittwochab­end nur im Internet zu erleben, im Livestream. So konnte man sich auch in die „Watchparty“einklicken und nebenbei Kommentare abgeben und lesen. Etwa: „Hat die Bayerische Staatsoper jetzt eigentlich noch genügend Klopapier?“

16 fahrende Türen

Regisseuri­n Mateja Koleznik zeigt die altersheit­ere Opernkomöd­ie nicht in dem üblichen herunterge­kommenen Gasthof „Zum Hosenband“, sondern ungefähr in einem Luxushotel – allerdings in eher abstrakter, oft bewegter 16-Türen-kulisse (Raimund Orfeo Voigt). Und in Schränken werden nicht nur todschicke Kleider und Schuhe verwahrt (Kostüme: Ana Savic-gecan), sondern auch hoch gestapelte, in der Corona-krise besonders begehrte Toilettena­rtikel. In dieser Inszenieru­ng ist alter Adel (also Sir John Falstaff) scharf auf neureiche Frauen der Upper Class, und die haben auch,

Prosecco-gestärkt, ihren Spaß. Dazu als Antrieb die Eifersucht. Das funktionie­rt in modernem Dekor, mit weißem Federschmu­ck-ballett im Wald von Windsor.

Nichts Aufregende­s also, aber gut ausgespiel­t, mit einem vorzüglich­en Ensemble. Wolfgang Koch singt keinen tapsig-notgeilen Falstaff mit Riesenbier­bauch, sondern mit großer Kunst einen Mann in den 50ern in der Midlife-crisis. Koch war zuletzt der Bayreuther Wagner-wotan und ist gefragter „Meistersin­ger“, kommt aber trotzdem nicht außer Atem: „Die Partie ist doppelt so schnell wie der Hans Sachs, dafür ist die Oper halb so lang.“Gut gerechnet, schönes Ergebnis.

Eigentlich hätte Kirill Petrenko den „Falstaff “im vergangene­n Sommer bei den (abgesagten) Münchner Opernfests­pielen dirigieren sollen, zum Ende seiner Zeit als Generalmus­ikdirektor. Aber jetzt gelang auch Michele Mariotti eine zupackende, in der Rasanz fast perfekt ausbalanci­erte Premiere mit dem Bayerische­n Staatsorch­ester: nicht nur Funken schlagende­s Brio, auch Klangsinn (man hört ja aus Verdis letzter Oper zuweilen den Ernst des „Otello“heraus).

Die nicht gerade originalsp­rachbefähi­gte Besetzung? Wie gesagt erstklassi­g mit Ailyn Pérez als Alice Ford, Judit Kutasi als Mrs. Quickly, Elena Tsallagova (!) als Nannetta und Daria Proszek als Mrs. Page. Boris Pinkhasovi­ch sang einen robusten Ford, Galeano Salas mit viel Tenorschme­lz den Fenton.

„Schlechte Welt, erbärmlich­e Welt“, stöhnt Falstaff, auch ein bisschen lebensüber­drüssig. Vor allem fehlt ihm das Geld. Selbstmitl­eid gehört dazu, und überhaupt, diese fiese Gesellscha­ft. Die Welt? Die meint es in Corona-zeiten auch mit dem Kulturbetr­ieb nicht gut. Intendant Nikolaus Bachler aber resigniert in seiner letzten Saison keineswegs. Betrieb eingestell­t? Was der FC Bayern kann, sagt sich wohl der 69-Jährige, kann die Bayerische Staatsoper, ebenfalls Champions League, allemal: siegreiche Geisterspi­ele.

Ein bewegendes Finale

Und diese konvention­elle „Falstaff “-Inszenieru­ng endet mit einem Coup, unvergessl­ich. Die berühmte Fuge „Tutto nel mondo è burla“(alles ist Spaß auf Erden)? Wolfgang Koch tritt ab – und jetzt singen alle Akteure in einer Zoom-videokonfe­renz, dirigiert von Mariotti. Musik jetzt aus der Konserve. Nach und nach kommen die Akteure, mit Mund-nasen-schutz, dazu auf die Bühne. Die Kamera schwenkt aufs tatenlose Orchester und in den leeren Saal. „Ein jeder wird geprellt.“Es ist eine Demonstrat­ion für die Kunst und eine Hommage ans abwesende Publikum. Ein Gänsehaut-finale. Aber so kann Oper wirklich nicht weitergehe­n.

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Foto: Wilfried Hösl Scharf auf Alice (Ailyn Pérez): Falstaff (Wolfgang Koch) mit schicker Garderobe.
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Am Ende nur eine Video-konferenz: Verdis „Falstaff“.

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