Fundamentale Fragen
zum Zustand der Europäischen Union
Dass Deutschland Europa viel zu verdanken hat, ist eine ebenso zutreffende wie weit verbreitete Analyse, weswegen sie auch in fast jeder größeren politischen Rede in der ein oder anderen Form vorkommt. Weniger bekannt ist, dass auch diese Bundesregierung Europa viel zu verdanken hat. Ihr eigenes Zustandekommen zum Beispiel. Denn mit dem „neuen Aufbruch für Europa“beginnt nicht nur der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, das hehre Ziel war auch der wichtigste Grund für die Sozialdemokraten, es entgegen ursprünglicher Planungen doch noch einmal mit der Union zu versuchen.
Von einem „neuen Aufbruch“ist in Europa längst keine Rede mehr – im Gegenteil. Krisenmodus und Schadensbegrenzung bestimmen in der Endphase der Groko und im Schlussmonat der deutschen Eu-ratspräsidentschaft mal wieder die Tagesordnung. Wenn sich die Staats- und Regierungschefs Ende der Woche in Brüssel treffen, ist ihr Programm so voll, dass sie trotz Corona sogar zwei Tage lang konferieren.
Europa kämpft derzeit mit gleich zwei Großproblemen, von denen jedes für sich genommen schon ausreichend kompliziert wäre: dem Brexit und der Haushaltsblockade im Streit um den Rechtsstaatsmechanimus. Ihnen ist gemeinsam, dass es um eine fundamentale Frage geht; um nationale Souveränität nämlich. Die Briten waren dafür sogar bereit, die Europäische Union zu verlassen. So schmerzhaft das ist und so schwierig sich die Trennung derzeit auch gestaltet, das Problem ist immerhin zusammen mit den Briten auf dem Weg Richtung Ausgang. Deswegen ist es auch so wichtig, dass sich die verbleibenden Eu-staaten nun nicht doch noch auf den letzten Verhandlungsmetern über
Fischereirechte und Notfallpläne untereinander zerlegen.
Gefährlicher ist die Lage in Sachen Rechtsstaatsmechanismus: Der Streit berührt die EU im Innersten und das mehrfach. Es geht um fundamentale europäische Prinzipien, es geht um Staaten, die Teil der Union sind und eigentlich auch bleiben sollen – und es geht, wie fast immer in Europa, auch um sehr viel Geld. Tragischerweise bedroht der Konflikt ausgerechnet einen Erfolg, der eigentlich als eine der größten Errungenschaften der EU der zurückliegenden Jahre zu werten ist. Das große Finanzpaket nämlich, das Europa im Sommer als
Der Streit mit Polen und Ungarn um den Rechtsstaatsmechanismus berührt die EU im Innersten.
Antwort auf die Corona-krise schnürte. Und mit dem zugleich vergessen gemacht werden sollte, wie stark die nationalen Egoismen zu Beginn der Pandemie ausgeschlagen hatten.
Ja, der 750-Milliarden-krisenfonds könnte nun wieder aus dem Hilfsbündel herausgelöst und als multilaterales Konstrukt neu geschnürt werden. Das würde eine Auszahlung an den widerspenstigen Polen und Ungarn vorbei ermöglichen. So aber würde genau der Fortschritt wieder preisgegeben, den das Ganze eigentlich für Europa bedeuten soll; eben mehr zu sein als eine zwischenstaatliche Vereinbarung. Es ist schon traurig genug, dass in der EU die Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien quasi mit Geld erzwungen werden soll. Nein, ein neuer Aufbruch ist das alles nicht.