Heidenheimer Neue Presse

Wie eine mitreißend­e Miniserie

- Erik Lim

Ja, es gibt sie noch, die fulminant erzählten Romane, bei denen dem Leser ein ums andere Mal die Luft weg bleibt oder ein „Das gibt’s doch nicht!“entfährt. Dass so etwas passiert, ist einem mit allen Wassern gewaschene­n und furchtlose­n Autor wie Jean-paul Dubois zu verdanken. Mit seinem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“hat er ein Buch herausgeha­uen, das einen in den Bann zieht, dessen Personal und Ideen zwar nicht gänzlich unglaublic­h, jedoch schon sehr weit vom Gewohnten entfernt sind.

Als Protagonis­t tritt in diesem Roman Paul Hansen auf, der in Montréal im Gefängnis sitzt, weil er jemanden mit großer Wut und Brutalität schwer verletzt hat. Zunächst geht es mit Pauls Kindheit los, die er, Sohn eines dänischen Pastors und einer französisc­hen Programmki­nobetreibe­rin, in Toulouse verbringt – in dieser Stadt wurde im Übrigen 1950 auch Dubois geboren, der 2019 für diesen Roman den Prix Goncourt gewann. Dubois erzählt die Geschichte anhand von Filmen, die Anna Hansen in ihrem Kino zeigt („Blow up“zum Beispiel), aber auch besondere Autos spielen eine Rolle, wie der legendäre NSU Ro80, ein 66er Ford Bronco und eine DS, das wohl schönste Auto, das Citroën je gebaut hat.

Hier zeigt sich Dubois‘ über 25 Jahre lange Arbeit als Journalist. Es gelingt ihm ohne jede Mühe, Wissenswer­tes in prägnanter Form zu vermitteln. Seine Nebenbei-informatio­nen würzen und unterfütte­rn die Geschichte, die an Fahrt gewinnt, als Anna Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunder­ts ihr Kino linksradik­alen Vortragsre­dnern als Forum zur Verfügung stellt. Wenige Jahre später macht sie mit dem berüchtigt­en Film „Deep Throat“viel Geld, sät aber auch viel Zwist – in der Stadt und in ihrer Ehe.

Der Pastor geht nach Kanada, Paul folgt ihm, der Pastor wird auch dort nicht glücklich, verliert erst seinen Glauben, dann auf der Rennbahn sein Geld und schließlic­h den kläglichen Rest seiner Existenz. Und Paul? Der wird Hausmeiste­r in einer schicken Wohnanlage, wo er viele Jahre lang repariert, beauftragt und den Menschen hilft und zuhört.

Einige Asse im Ärmel

Und die Liebe? Ja, die kommt. Relativ spät, aber mit voller Wucht und in Gestalt von Winona, einer Frau, von der Paul immer wieder denkt, er habe sie nicht verdient, so toll, so besonders, so mitreißend ist sie. Doch Dubois lässt seine Leser noch lange nicht in Ruhe, treibt seine Geschichte voran, hat noch einige erzähleris­che Asse im Ärmel, die schließlic­h in das bereits erwähnte Gefängnis führen, wo Paul sich eine Zelle mit einem Mitglied der Hell‘s Angels teilt – eine von vielen besonderen Episoden dieses prallen Erzählfeue­rwerks, das gerade einmal 252 Seiten dünn ist, die sich mindestens wie 400 Seiten anfühlen und von denen keine überflüssi­g ist.

„Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ist wie ein intensiver Film oder eine sehr gelungene Miniserie: Das Buch beschreibt mit hohem Tempo erstaunlic­he Entwicklun­gen anhand des Lebens eines Mannes, beschert uns ein Füllhorn an Gefühlen und entlässt uns reich und staunend und sehr froh.

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