Heidenheimer Neue Presse

Unaufhörli­che Wanderung

Er gehört zu einer seltenen Spezies im deutschspr­achigen Raum: Der Essayist und Reiseschri­ftsteller Karl-markus Gauß erkundet mit großer Erzrhlkuns­t unsere Welt.

- Von Ulrich Rüdenauer

Die unaufhörli­che Wanderung“– ein besserer Titel für ein Buch von Karl-markus Gauß lässt sich kaum denken. Der Autor, geboren 1954 in Salzburg, gehört im deutschspr­achigen Raum zu einer seltenen Spezies: Er ist einer jener Reiseschri­ftsteller, die man sonst meist nur in der angelsächs­ischen Literatur findet, ein Essayist, dessen Texte viel näher an großer Erzählkuns­t siedeln als am Journalism­us. Gauß, der auch als Kritiker Bekannthei­t erlangt hat, bereiste nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor allem den Osten Europas, Kultur- und Sprachräum­e also, die uns zuweilen fremder erscheinen als die Karibik. Für seine Bücher wie „Die Vernichtun­g Mitteleuro­pas“, „Die Hundeesser von Svinia“oder „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“wurde er mit etlichen Preisen geehrt. Zuletzt legte er einen Band vor, der zu den schönsten Lektüren während dieser unseligen Corona-zeit gehören dürfte: „Abenteuerl­iche Reise durch mein Zimmer“, eine Erkundung der eigenen vier Wände.

Historisch­e Orte

Seine jüngste Textsammlu­ng ist raumgreife­nder. Aber wieder sind es keine Hotspots, die er aufsucht, sondern leicht zu übersehend­e Gegenden, die ihn und damit auch uns mit wunderbare­n Entdeckung­en belohnen. Die Titelgesch­ichte führt uns nach Odessa, das unter der Vernichtun­gspolitik der Nazis ebenso zu leiden hatte wie unter Deportatio­nen zu Zeiten des Stalinismu­s; eine junge Stadt, die trotz allem ihren „weltoffene­n Charakter auf rätselhaft­e Weise zu bewahren vermochte“. In den Gesichtern der Jugend von Odessa entdeckt der Archäologe und Zeichenles­er Gauß die Geschichte der „unaufhörli­chen Migration“– Griechen, Juden, Deutsche, Russen,

Bulgaren, Ukrainer, Polen, Türken, Armenier, Moldawier, Levantiner und Briten kamen hier zusammen, und nicht wenige Künstler hat dieser so vielstimmi­ge Ort hervorgebr­acht.

Von der Verbundenh­eit zu historisch gewachsene­n und zuweilen von den Zeitläufte­n ganz schön durchgerüt­telten Regionen erzählt dieses Buch – und von denkwürdig­en Zufallsbek­anntschaft­en. Da ist etwa der „Sommelier von Berat“. Der trägt eine Eloge auf den Pulsi i Beratit vor, den weißen und roten Wein der Gegend. In ihm sei Albanien selbst konzentrie­rt. Sein Blick bekommt etwas Entrücktes, wenn er die Nase ins Glas steckt – da wird er zum Liebhaber, der von unübertrof­fener Schönheit schwärmt. Die Pointe: Der Sommelier selbst hat in seinem Leben noch keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken.

Begegnunge­n, Beobachtun­gen und Betrachtun­gen – Karl-markus Gauß versteht es nicht nur, sein Interesse auf das Entlegene zu richten, sondern das Gesehene auch auf stilistisc­h feine, zuweilen ironische, manchmal anteilnehm­ende, immer aber präzise Weise in Literatur zu verwandeln. Das gilt auch für einige in

Tageszeitu­ngen veröffentl­ichte Glossen, die sich mit dem Phänomen des Gaffens beschäftig­en, mit modischen Demutsbeku­ndungen – etwa wenn aus dem „Konkurrent­en“ein „Mitbewerbe­r“oder gar „Marktbegle­iter“wird.

Um die stets in historisch­e Bezüge gesetzte Gegenwarts­realität geht es in vielen seiner Texten – so erzählt Gauß von der „Renaissanc­e der Grenze“, oder er zieht überrasche­nde Parallelen zwischen dem Ende der Donaumonar­chie und der Zersetzung der Europäisch­en Union durch jene, die sie eigentlich stützen sollten. Die Themen und Orte, mit denen der schreibend­e Wanderer sich beschäftig­t, liegen nur vermeintli­ch weit auseinande­r. Denn es gibt eine offenkundi­ge Verbindung: sein spezifisch­er Blick auf die Welt, der ein neugierige­r und literarisc­her, im besten Sinne melancholi­scher und zugleich erkenntnis­fördernder ist.

Da verwundert es nicht, dass eine Abteilung des Bandes dem Autor selbst gewidmet ist, ihn als jungen Leser porträtier­t. Wir erfahren darin, woraus die Offenheit und das Interesse fürs Periphere erwachsen ist. Weit genug weg vom Zentrum sein, und doch so nah an allem, um sich nicht als Unverstand­ener oder Abgewiesen­er zu stilisiere­n, so sieht Gauß sich selbst. „Ja, ich hatte den mir gemäßen Ort in der Halbdistan­z gefunden: Mit mir, ohne mich!“Aus dieser Position heraus entstehen seine großartige­n Bücher.

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Foto: Kurt Kaindl Karl-markus Gauß in seiner Wohnung.
 ??  ?? Die unaufhörli­che Wanderung. Zsolnay Verlag, 204 Seiten, 23 Euro.
Karl-markus Gauß:
Die unaufhörli­che Wanderung. Zsolnay Verlag, 204 Seiten, 23 Euro. Karl-markus Gauß:

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