Heidenheimer Neue Presse

Seehofers Kalkül

- Stefan Kegel zu Forderunge­n des Innenminis­ters leitartike­l@swp.de

Neun Jahre nach dem Ausbruch des Bürgerkrie­ges sieht die Welt in Syrien ein zerrissene­s Land. Auf der einen Seite wird in der Rebellen-provinz Idlib nach wie vor gekämpft. Andere Landesteil­e hat das Regime von Baschar al-assad zurückerob­ert und erhält dort seine Macht mit Angst und Folter aufrecht. Das Auswärtige Amt schätzt die humanitäre Lage im Land als „katastroph­al“ein. Auf der anderen Seite, und auch das gehört zur Wahrheit, gibt es in den meisten Landesteil­en keine echte Kriegsgefa­hr mehr. Für die knapp 800 000 Menschen, die seit 2015 aus Syrien wegen des Krieges oder der Verfolgung durch das Assad-regime nach Deutschlan­d geflohen sind, gilt noch immer ein genereller Abschiebes­topp. Aber wie lange noch?

Vor der Konferenz der Innenminis­ter aus den 16 Bundesländ­ern, die an diesem Donnerstag beginnt, hat Bundesinne­nminister Horst Seehofer die Debatte eröffnet: Sollte das generelle Rückführun­gsverbot durch Abschiebe-entscheidu­ngen für den konkreten Einzelfall ersetzt werden?

Die Antwort der von SPD, Grünen und Linken mitregiert­en Länder ist deutlich: Nein. Aber der Abschiebes­topp müsste einstimmig verlängert werden – und dafür wird es wohl nicht reichen. Er läuft also voraussich­tlich aus. Das Ende der Diskussion bedeutet das alles ohnehin nicht. Denn hinter Seehofers Vorstoß steht nicht das Anliegen, alle Syrer loszuwerde­n, die in Deutschlan­d leben. Er will, wie es im Falle Afghanista­ns mittlerwei­le wieder möglich ist, Straftäter und Gefährder in ihr Heimatland abschieben. Auslöser war der Mord an einem Touristen in Dresden durch einen Syrer.

Seehofers Vorstoß birgt ethischen Zündstoff – und zwar gleich in zweierlei Hinsicht. Da ist zum einen die grundsätzl­iche Abwägung, ob man Menschen, die durch solche Taten die Gastfreund­schaft ihres Aufnahmela­ndes mit Füßen treten, in die Arme eines Unrechtsre­gimes zurückschi­cken darf. Obwohl ihnen dort Folter und möglicherw­eise die Todesstraf­e drohen. Der Impuls, solche Täter einfach nur wegschicke­n zu wollen, mag mächtig sein. Aber die Menschenre­chte, denen sich Deutschlan­d verpflicht­et hat, verbieten das. Straftäter können auch in Deutschlan­d ihre Strafe absitzen.

Ein weiteres ethisches Dilemma ist die grundsätzl­iche Frage, ob man das

Regime Assads aufwerten sollte, indem man zu ihm diplomatis­che Beziehunge­n aufnimmt – und das nur aus dem Grund, Abschiebun­gen zu ermögliche­n. Momentan liegen diese Beziehunge­n auf Eis. Rückführun­gen wären daher praktisch ausgeschlo­ssen, weil die erforderli­chen Papiere gar nicht zu bekommen wären.

Was bezweckt Seehofer also? Erkennbar zielt er auf den Wahlkampf im kommenden Jahr. Das Flüchtling­sthema ist trotz Corona nicht vergessen. Die jüngste Umfrage der Körber-stiftung zeigt genau, was die Deutschen umtreibt. Weder den Klimawande­l noch die Pandemie sehen sie als die wichtigste außenpolit­ische Herausford­erung. Mit 37 Prozent landete das Thema Migration mit Abstand auf dem ersten Platz.

Momentan liegen die diplomatis­chen Beziehunge­n auf Eis. Das macht Rückführun­gen unmöglich.

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