Seehofers Kalkül
Neun Jahre nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges sieht die Welt in Syrien ein zerrissenes Land. Auf der einen Seite wird in der Rebellen-provinz Idlib nach wie vor gekämpft. Andere Landesteile hat das Regime von Baschar al-assad zurückerobert und erhält dort seine Macht mit Angst und Folter aufrecht. Das Auswärtige Amt schätzt die humanitäre Lage im Land als „katastrophal“ein. Auf der anderen Seite, und auch das gehört zur Wahrheit, gibt es in den meisten Landesteilen keine echte Kriegsgefahr mehr. Für die knapp 800 000 Menschen, die seit 2015 aus Syrien wegen des Krieges oder der Verfolgung durch das Assad-regime nach Deutschland geflohen sind, gilt noch immer ein genereller Abschiebestopp. Aber wie lange noch?
Vor der Konferenz der Innenminister aus den 16 Bundesländern, die an diesem Donnerstag beginnt, hat Bundesinnenminister Horst Seehofer die Debatte eröffnet: Sollte das generelle Rückführungsverbot durch Abschiebe-entscheidungen für den konkreten Einzelfall ersetzt werden?
Die Antwort der von SPD, Grünen und Linken mitregierten Länder ist deutlich: Nein. Aber der Abschiebestopp müsste einstimmig verlängert werden – und dafür wird es wohl nicht reichen. Er läuft also voraussichtlich aus. Das Ende der Diskussion bedeutet das alles ohnehin nicht. Denn hinter Seehofers Vorstoß steht nicht das Anliegen, alle Syrer loszuwerden, die in Deutschland leben. Er will, wie es im Falle Afghanistans mittlerweile wieder möglich ist, Straftäter und Gefährder in ihr Heimatland abschieben. Auslöser war der Mord an einem Touristen in Dresden durch einen Syrer.
Seehofers Vorstoß birgt ethischen Zündstoff – und zwar gleich in zweierlei Hinsicht. Da ist zum einen die grundsätzliche Abwägung, ob man Menschen, die durch solche Taten die Gastfreundschaft ihres Aufnahmelandes mit Füßen treten, in die Arme eines Unrechtsregimes zurückschicken darf. Obwohl ihnen dort Folter und möglicherweise die Todesstrafe drohen. Der Impuls, solche Täter einfach nur wegschicken zu wollen, mag mächtig sein. Aber die Menschenrechte, denen sich Deutschland verpflichtet hat, verbieten das. Straftäter können auch in Deutschland ihre Strafe absitzen.
Ein weiteres ethisches Dilemma ist die grundsätzliche Frage, ob man das
Regime Assads aufwerten sollte, indem man zu ihm diplomatische Beziehungen aufnimmt – und das nur aus dem Grund, Abschiebungen zu ermöglichen. Momentan liegen diese Beziehungen auf Eis. Rückführungen wären daher praktisch ausgeschlossen, weil die erforderlichen Papiere gar nicht zu bekommen wären.
Was bezweckt Seehofer also? Erkennbar zielt er auf den Wahlkampf im kommenden Jahr. Das Flüchtlingsthema ist trotz Corona nicht vergessen. Die jüngste Umfrage der Körber-stiftung zeigt genau, was die Deutschen umtreibt. Weder den Klimawandel noch die Pandemie sehen sie als die wichtigste außenpolitische Herausforderung. Mit 37 Prozent landete das Thema Migration mit Abstand auf dem ersten Platz.
Momentan liegen die diplomatischen Beziehungen auf Eis. Das macht Rückführungen unmöglich.