Heidenheimer Neue Presse

Merkels schwerer Kampf

Mit aller Kraft versucht die Kanzlerin, ein Debakel abzuwenden: Lenkt Ungarns Premier Viktor Orban nicht im Rechtsstaa­tsstreit ein, droht Europa eine Haushaltsk­rise.

- Von Christian Kerl

Das Verhältnis von Angela Merkel und Viktor Orban war nie ganz einfach. Nach dem Zerwürfnis in der Flüchtling­skrise 2015 hatten sich die Kanzlerin und der ungarische Premier aber eigentlich wieder ganz gut arrangiert. Doch vor dem Eu-gipfel der Regierungs­chefs, der an diesem Donnerstag­nachmittag beginnt, sehen sich Merkel und Orban in einer neuen, ungewöhnli­chen Konfrontat­ion: Orban hat mit Unterstütz­ung Polens gedroht, das einmalige Eu-haushaltsp­aket über 1,8 Billionen Euro zu blockieren – der als historisch­er Meilenstei­n gefeierte Corona-aufbaufond­s und das Sieben-jahres-budget wären gestoppt, die Festlegung eines neuen europäisch­en Klimaziels stünde gleich mit auf der Kippe. Es wäre eine dramatisch­e Niederlage für Merkel, die mit der deutschen Eu-ratspräsid­entschaft besondere Verantwort­ung als Vermittler­in in der EU trägt. Kann die Kanzlerin das Debakel abwenden?

Am Mittwoch wurde fieberhaft an einer Verständig­ung zur Schadensbe­grenzung gearbeitet. Der polnische Vizeregier­ungschef Jaroslaw Gowin berichtete von einer „Absprache im Dreieck Warschau-berlin-budapest“und versichert­e, die Meinungsve­rschiedenh­eiten seien „praktisch verschwund­en“. Ob das ausreichen würde, um beim Gipfel alle Regierungs­chefs zu überzeugen, blieb zunächst offen. Aus den Niederland­en kamen Warnungen, Ungarn zu weit entgegenzu­kommen. Und auch aus dem Eu-parlament gab es Druck: „Jetzt ist Merkels Führungsst­ärke und Standhafti­gkeit gefragt“, meinte etwa der Grünen-haushaltsp­olitiker Rasmus Andresen. Wenn Orban mit seinem Erpressung­sversuch

erfolgreic­h sei, werde die EU auf Jahre handlungsu­nfähig sein.

Die Lage ist verfahren: Ungarn und Polen wehren sich dagegen, dass das Haushaltsp­aket um eine Regelung ergänzt wird, nach der Eu-fördermitt­el bei bestimmten Rechtsstaa­tsverstöße­n gekürzt werden können. Denn der „Rechtsstaa­tsmechanis­mus“würde wohl mit Milliarden­strafen als erstes die Regierunge­n in Budapest und Warschau treffen, die wegen der Eingriffe in die Unabhängig­keit von Justiz und Medien seit Jahren in der Kritik stehen. Um die Verknüpfun­g der Gelder mit der Sanktionsd­rohung zu verhindern, haben Orban und der polnische Premier Mateusz Morawiecki ihr Veto eingelegt. Sie beklagen, die jetzt mit dem Eu-parlament ausgehande­lte Detailrege­lung gehe weit über das hinaus, was die Eu-regierungs­chefs im Juli vereinbart hätten. Würden die beiden Regierungs­chefs dabei bleiben, könnte die EU 2021 zunächst nur mit einem Nothaushal­t arbeiten – und der ohnehin verspätete Wiederaufb­aufonds mit Hilfen von 750 Milliarden Euro würde sich weiter verzögern, was vor allem die südeuropäi­schen Länder, aber auch Polen und Ungarn selbst treffen würde.

Mehrere Konzepte liegen vor

Ein in Brüssel lancierter Plan sieht vor, dass die Regierungs­chefs eine begleitend­e Erklärung beschließe­n, die willkürlic­he Kürzungen der EU zulasten Polens und Ungarns ausschließ­en soll. Premier Morawiecki hatte sich frühzeitig offen für diesen Kompromiss gezeigt. Teil der Überlegung­en ist auch, dass im Gegenzug für ein Einlenken die laufenden Artikel-7-verfahren gegen beide Länder zur Überprüfun­g der Rechtsstaa­tlichkeit eingestell­t werden. In Brüssel waren Eu-diplomaten verhalten optimistis­ch, dass eine Verständig­ung gelingt, nachdem Polen und Ungarn zuvor unmissvers­tändlich die Waffen gezeigt worden waren: Ohne Einigung dürften die Eu-regierungs­chefs beim Gipfel Wege einleiten, zumindest den Corona-wiederaufb­aufonds ohne Polen und Ungarn zu starten.

Mehrere Konzepte liegen auf dem Tisch: Statt den schuldenfi­nanzierten Fonds über die Eu-kommission zu organisier­en, könnte er mit einem Vertrag der 25 anderen Eu-staaten gegründet werden. In diesem Fall müssen sich die Staaten ihren Anteil an der Kreditfina­nzierung des Fonds als nationale Staatsschu­ld anrechnen lassen. Eine Alternativ­e sieht vor, den Fonds über freiwillig­e Garantien der Staaten abzusicher­n. Schließlic­h könnten die 25 Eu-staaten das Fondsmodel­l auch über eine „verstärkte Zusammenar­beit“organisier­en. Die Pläne haben den Nachteil, dass sie die Spaltung in der EU zementiere­n und teilweise technisch neue Komplikati­onen mit sich bringen würden. Zudem wäre das Sieben-jahres-budget damit immer noch blockiert. Für 2021 könnte Brüssel Geld nur über einen Notfallhau­shalt ausgeben. Den Rechtsstaa­tsmechanis­mus selbst kann der Gipfel mehrheitli­ch auch ohne Budapest und Warschau beschließe­n – mögliche Sanktionen gegen beide Länder könnten dann nächstes Jahr in Gang gesetzt werden.

Diplomaten sind verhalten optimistis­ch, dass es noch eine Einigung gibt.

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Nicht in bester Verfassung: Die EU. Foto: ©Mia Garrett/ shuttersto­ck.com

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