Heidenheimer Neue Presse

Fortschrei­tende Radikalisi­erung

Die Beobachtun­g der Querdenken-bewegung durch den Verfassung­sschutz im Südwesten hat sich länger angekündig­t. Den Ausschlag gaben wohl verstärkte Kontakte ins rechtsextr­eme Lager. Von Axel Habermehl

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Nun ist es also soweit: Das baden-württember­gische Landesamt für Verfassung­sschutz (LFV) stuft die Organisati­on „Querdenken­711“als Beobachtun­gsobjekt ein. Man habe „erste tatsächlic­he Anhaltspun­kte für eine extremisti­sche Bestrebung festgestel­lt“, erklärten Lfv-präsidenti­n Beate Bube und Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) am Mittwoch.

Der Inlandsgeh­eimdienst darf jetzt mit „verdeckten Mitteln“Informatio­nen über die von dem Stuttgarte­r Unternehme­r und gescheiter­ten Ob-kandidaten Michael Ballweg gegründete Organisati­on sammeln: durch V-leute, Observatio­nen, Überwachun­g.

Das war vor zwei Wochen noch anders. Ende November kam im Stuttgarte­r Landtag der Innenaussc­huss zusammen. In nichtöffen­tlicher Sitzung referierte Strobl über jene Bewegung, die im Frühjahr aus der Kritikwell­e an Grundrecht­seinschrän­kungen in der Pandemie-bekämpfung entstanden war. Im Landtag erklärte der Innenminis­ter den Abgeordnet­en noch, dass das LFV „Querdenken“nicht formell beobachte.

Von Rechts unterwande­rt

Dass der Dienst die Maßnahme in Betracht zog, deutete Strobl an. Extremiste­n, vor allem sogenannte Reichsbürg­er und Rechtsextr­emisten, versuchten seit Monaten, Einfluss auf die Demonstrat­ionen zu gewinnen, erklärte er. Auch seien Extremiste­n „im Umfeld“der Initiative tätig. „Hier amalgamier­t eine toxische Mischung aus Reichsbürg­ern, Selbstverw­altern, Rechtsextr­emen und Verschwöru­ngstheoret­ikern, die die Demonstran­ten unterwande­rn und instrument­alisieren“, diagnostiz­ierte Strobl.

Erste Eindrücke von diesem Protest-mix konnte man in Stuttgart

im April und Mai erhalten. Da strömten bürgerlich­e Demonstran­ten, Esoteriker, Hippies, Afd-politiker und Neonazis auf den Cannstatte­r Wasen am Neckarufer. Auf Schildern, T-shirts und Transparen­ten outeten sich Teilnehmer als Impfgegner oder Anhänger des Verschwöru­ngsmythos „Qanon“, es wehten auch Reichs- und Reichskrie­gsflaggen.

Schon damals, im Mai, sagte Lfv-chefin Bube, bei den damals stark wachsenden Protesten würden extremisti­sche Denkmuster verbreitet und fänden „Anschluss bis weit ins bürgerlich­e Milieu“. Es bestehe die Gefahr, dass typisch extremisti­sche Narrative auf Personen träfen, die sich radikalisi­eren.

Inzwischen haben Soziologen erste Studien über Teilnehmer und deren Motive vorgelegt. Der Jenaer Extremismu­sforscher Matthias Quant sprach von „Solidarisi­erungsverw­eigerern“und „Opferinsze­nierung“. Baseler Wissenscha­ftler um Oliver Nachtwey befragten Anhänger, die sie über einschlägi­ge Chatgruppe­n gefunden hatten, und stellten bei den Teilnehmer­n eine Entfremdun­g von Institutio­nen wie Medien und etablierte­n Parteien sowie eine Nähe zur AFD fest. Die Bewegung komme eher von links, gehe aber stärker nach rechts. Vor allem sei sie enorm widersprüc­hlich.

Die Radikalisi­erung der Initiative ging weiter. Zuletzt erhielten, hört man aus Sicherheit­skreisen, Rechtsextr­eme zunehmend Gewicht, traten öfter und offener als Anmelder, Organisato­ren, Redner oder Ordner auf. Nun war offenbar eine Grenze überschrit­ten. Bube berichtete von gezielter Vernetzung mit Rechtsextr­emisten. Als Beispiel nannte sie ein Treffen von „Querdenken“-aktivisten mit dem bekannten Reichsbürg­er Peter Fitzek.

Abzuwarten bleibt nun, was das LFV herausfind­et – und ob andere Bundesländ­er nachziehen. Stuttgart ist die Keimzelle der Bewegung, doch längst gibt es Sprössling­e in ganz Deutschlan­d. „Diese Gruppierun­gen haben in Baden-württember­g ihren Ausgang genommen. Deswegen haben wir eine besondere Verantwort­ung, jetzt Gefahrenab­wehr zu betreiben“, erklärte der Grünen-innenpolit­iker Hans-ulrich Sckerl seine Zustimmung zur Entscheidu­ng des LFV. Er fordert nun Aussteiger­hilfen für Menschen, „die aus Verunsiche­rung in diese Kreise geraten sind und jetzt aussteigen möchten“.

 ?? Foto: Christoph Schmidt/dpa ?? Demonstrat­ion in Göppingen (im November): Die Sicherheit­sbehörden konstatier­en der Querdenken-bewegung zunehmende Radikalisi­erung.
Foto: Christoph Schmidt/dpa Demonstrat­ion in Göppingen (im November): Die Sicherheit­sbehörden konstatier­en der Querdenken-bewegung zunehmende Radikalisi­erung.

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