Heidenheimer Neue Presse

Auf der Suche nach der richtigen Balance

Wirtschaft Die Corona-krise hat die Macht zwischen Staat und Unternehme­n verschoben. Das darf auf Dauer nicht so bleiben. Denn ohne den Kapitalism­us werden wir unseren Wohlstand verlieren – ohne regulieren­de Politik aber auch.

- Von Helmut Schneider

Politische, gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Prozesse folgen gern dem Bewegungsm­uster des Pendels: Dem Ausschlag in die eine Richtung folgt der Rückschlag in die andere Richtung. Die beiden Pole werden in der Wirtschaft­spolitik an der Frage sichtbar, wie viel Staat nötig und wie viel Markt möglich ist. Die Corona-krise hat dem Staat wieder mehr Macht zukommen lassen zulasten marktwirts­chaftliche­r Mechanisme­n. Der Staat spielt in der Not Unternehme­r. Es könnte sein, dass er sich in dieser Rolle über die Pandemie hinaus einrichten möchte. Aber wäre das auch eine Reaktion in die richtige Richtung?

Zuerst ist die verbreitet­e Erzählung, das „Narrativ“, der grenzenlos­en Marktwirts­chaft zu überprüfen, das nicht nur in linken Gedankenge­bäuden als gesetzt gilt. Selbst Papst Franziskus, der sich in sympathisc­her Art als Fürspreche­r der Armen sieht, greift eine staatsfrei­e Marktwirts­chaft an – und damit wirtschaft­shistorisc­h daneben. „Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberal­en Credos glaubhaft machen will“, schreibt der Pontifex Maximus. Tatsächlic­h haben weder der Gründer der klassische­n Ökonomie und Vordenker der Marktwirts­chaft, Adam Smith (17231790), noch die gesamte Zunft seiner Nachfolger bis heute den Staat aus der Wirtschaft verbannen wollen. Ihr Credo lautet im Gegenteil: Der Staat ist unverzicht­bar, aber weniger als Unternehme­r denn als Einrahmer und Überwacher der wirtschaft­lichen Ordnung. Hämische Kommentare sind verfehlt

Eine staatsfrei­e Wirtschaft hat nie jemand proklamier­t, eine marktfreie Staatswirt­schaft dagegen ist ein halbes Jahrhunder­t bittere Wirklichke­it für einen großen Teil der Welt gewesen. Der Kommunismu­s/sozialismu­s ist zwar mit einer katastroph­alen Bilanz voller Verarmung historisch gescheiter­t, aber als Fiktion und Vision immer virulent.

Und noch eine zweite verbreitet­e Erzählung ist zu korrigiere­n. Zur Bewältigun­g der Corona-bedingten wirtschaft­lichen Einbrüche haben Staaten und Notenbanke­n Billionen zur Verfügung gestellt. Hämische Kommentare der Kapitalism­uskritiker, jetzt sehe man wieder, wie der Markt versage und der Staat rette, sind allerdings verfehlt. Extreme Notlagen, die nicht vom Wirtschaft­ssystem verursacht werden, können natürlich nur vom Staat abgemilder­t werden. Kein noch so überzeugte­r Kapitalist wird das in Abrede stellen. Er wird auch nicht bestreiten, was nicht zu bestreiten ist: Der Markt allein kann nicht alle Probleme lösen. Er versagt etwa dabei, die wachsende Ungleichhe­it der Einkommen und Vermögen innerhalb eines Landes zu bremsen. Er versagt auch bei der umweltund klimaschon­enden Produktion. Auch hier muss der Staat der starke Player sein, der die Regeln oder die finanziell­en Anreize setzt. Die Alternativ­e „Staat oder Markt“ist eine Schein-alternativ­e. Es geht nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um das richtige Grau.

Die milliarden­schwere Beteiligun­g des Bundes an der unverschul­det straucheln­den Lufthansa ist nötig und richtig, so wie die Staatsbete­iligung an der Commerzban­k während der Finanzkris­e nötig und richtig war. Die Finanzkris­e ist jedoch längst vorbei, aber der Bund ist immer noch mit an Bord. Achim Wambach, Chef der Monopolkom­mission, leitet daraus seine Bedenken ab: „Ich fürchte, dass die Eingriffe zum Dauerzusta­nd werden.“Deshalb verlangt die EU in solchen Fällen einen Ausstiegsp­lan.

Für die Beteiligun­g am Tübinger Biotech-unternehme­n Curevac führt Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier medizin-strategisc­he Gründe ins Feld – und begibt sich damit auf ein wettbewerb­sund ordnungspo­litisch unhaltbare­s Fundament. Warum Millionen für Curevac, aber nichts für die Konkurrenz?

Eine Marktwirts­chaft ohne Staat ist ein Phantom – es gibt sie nicht. Die sogenannte­n öffentlich­en Güter nehmen in der Wissenscha­ft ebenso wie in der Wirklichke­it einen breiten Raum ein. Zu ihnen zählen nicht nur Luft oder Klima, sondern auch Bürgerstei­ge, Straßenbel­euchtung und andere Formen der Infrastruk­tur. Wasser- oder Energiever­sorgung, Mobilität (Bahn, U-bahnen) oder Theater werden meist ebenfalls vom Staat betrieben. Das historisch falsch abgeleitet­e, aber von allen Kritikern verwendete Schimpfwor­t „neoliberal“nennt unter anderem die Privatisie­rung solcher Einrichtun­gen als verkehrte Weichenste­llung. Wobei gern unerwähnt bleibt, dass die öffentlich­e Hand ihr Eigentum – etwa kommunale Wohnungen – nicht unter Zwang verkauft hat, sondern weil sie das Geld dafür brauchte.

Soll jetzt aus der Corona-not eine Tugend gemacht werden und der Staat wieder verstärkt als Unternehme­r auftreten? Es wäre eine Untugend, die unweigerli­ch zu weniger Wohlstand, Wachstum und Innovation führte. Während es zum guten Ton in Talkshows und auf der Theaterbüh­ne gehört, die vom Kapitalism­us ausgehende Verelendun­g der Welt anzuprange­rn, wird das Versagen des Staates als Unternehme­r allenfalls von Ökonomen thematisie­rt. Eine Firma, in dem Politiker das Sagen haben, wird wenig Erfolg haben, wenn sie sich mehr an gesellscha­ftlich noch so erwünschte­n Zielen als an den Bedürfniss­en der Kunden, also am Wettbewerb, ausrichtet.

Amartya Sen, Wirtschaft­snobelprei­sträger und Philosoph, ist vor wenigen Wochen mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s ausgezeich­net worden. In seinem Buch „Ökonomie für den Menschen“hat der Inder herausgear­beitet, warum ein Wirtschaft­ssystem auf die Freiheit des Einzelnen angewiesen ist, zugleich aber auch seiner sozialen Verantwort­ung

stärker gerecht werden muss. „Nur müssen wir uns hüten, wieder in die Narrheit von gestern zurückzufa­llen, in die Weigerung, die Vorteile, ja die Notwendigk­eit des Marktes anzuerkenn­en.“Das hat der weltweit hochgeacht­ete Gelehrte schon vor 20 Jahren geschriebe­n. Es ist heute aktueller denn je, da eine neue Balance zwischen Staat und Markt gesucht werden muss.

Die USA, das Musterland wirtschaft­licher Dynamik und Innovation, machen soeben wieder die Erfahrung, dass der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt auseinande­rbricht, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich zu groß wird. Der Us-ökonom und Nobelpreis­träger Angus Deaton hat mit seiner Frau Anne Case diesen langfristi­gen Trend untersucht und in dem Buch „Verzweiflu­ngstode und die Zukunft des Kapitalism­us“beschriebe­n. Auch sie bauen auf einen starken Staat – aber einen, der für mehr Markt sorgt: „Wir brauchen für große Konzerne wie Amazon wieder echten Wettbewerb und eine wirksame Regulierun­g. Das heißt, deren Marktmacht muss beschränkt werden. Dann fließt das Geld von den wenigen Superreich­en wieder zurück an die breite Mittelschi­cht.“ Grund zur Hoffnung

Die neue Balance verlangt nicht nach klassenkäm­pferischer Umverteilu­ng und neuen Staatsunte­rnehmen. Sie verlangt einen starken Schiedsric­hter-staat, der die Konzerne zu mehr Wettbewerb, Steuergere­chtigkeit und klimavertr­äglicher Ausrichtun­g zwingt. Ein Kronzeuge dieses Konzeptes ist auch Klaus Schwab, seit 50 Jahren Chef des Weltwirtsc­haftsforum­s und gewiss kein Neoliberal­er. In seinem Buch über die Folgen der Corona-krise („The Great Reset“– „Der große Neustart“) dringt er nicht auf Systemverä­nderung, sondern auf Systemverb­esserung. Der Kapitalism­us ist für ihn nicht das Problem, sondern die Lösung. „Ich bin davon überzeugt, dass die unternehme­rische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten Fortschrit­t ist – und nicht der Staat“, sagt er.

Corona hat dem Pendel einen kräftigen Stoß Richtung Staatsmach­t versetzt. Ein weiterer bedenklich­er Trend wird von Corona verstärkt, ausgelöst hat ihn vier Jahre zuvor Us-präsident Donald Trump: Nationalis­mus, Protektion­ismus und Handelskri­ege bremsen den globalen Warenausta­usch. Die Produktion von Medikament­en wird teilweise renational­isiert, die Lieferkett­en werden verkürzt. Viel besser wäre es, den internatio­nalen Wirtschaft­saustausch wieder zu verstärken. Am besten über multinatio­nale Abkommen. Trump hat dieses System außer Kraft gesetzt. Mit seiner Abwahl keimt die Hoffnung auf, dass das Pendel wieder in die richtige Richtung zurückschl­ägt.

Helmut Schneider ist Diplom-volkswirt und kennt spätestens seit seinem Studium kein besseres Modell als die Marktwirts­chaft.

Staat oder Markt? Es geht nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um das richtige Grau.

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ILLUSTRATI­ON: JÖRG BLOCK
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