Auf der Suche nach der richtigen Balance
Wirtschaft Die Corona-krise hat die Macht zwischen Staat und Unternehmen verschoben. Das darf auf Dauer nicht so bleiben. Denn ohne den Kapitalismus werden wir unseren Wohlstand verlieren – ohne regulierende Politik aber auch.
Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse folgen gern dem Bewegungsmuster des Pendels: Dem Ausschlag in die eine Richtung folgt der Rückschlag in die andere Richtung. Die beiden Pole werden in der Wirtschaftspolitik an der Frage sichtbar, wie viel Staat nötig und wie viel Markt möglich ist. Die Corona-krise hat dem Staat wieder mehr Macht zukommen lassen zulasten marktwirtschaftlicher Mechanismen. Der Staat spielt in der Not Unternehmer. Es könnte sein, dass er sich in dieser Rolle über die Pandemie hinaus einrichten möchte. Aber wäre das auch eine Reaktion in die richtige Richtung?
Zuerst ist die verbreitete Erzählung, das „Narrativ“, der grenzenlosen Marktwirtschaft zu überprüfen, das nicht nur in linken Gedankengebäuden als gesetzt gilt. Selbst Papst Franziskus, der sich in sympathischer Art als Fürsprecher der Armen sieht, greift eine staatsfreie Marktwirtschaft an – und damit wirtschaftshistorisch daneben. „Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will“, schreibt der Pontifex Maximus. Tatsächlich haben weder der Gründer der klassischen Ökonomie und Vordenker der Marktwirtschaft, Adam Smith (17231790), noch die gesamte Zunft seiner Nachfolger bis heute den Staat aus der Wirtschaft verbannen wollen. Ihr Credo lautet im Gegenteil: Der Staat ist unverzichtbar, aber weniger als Unternehmer denn als Einrahmer und Überwacher der wirtschaftlichen Ordnung. Hämische Kommentare sind verfehlt
Eine staatsfreie Wirtschaft hat nie jemand proklamiert, eine marktfreie Staatswirtschaft dagegen ist ein halbes Jahrhundert bittere Wirklichkeit für einen großen Teil der Welt gewesen. Der Kommunismus/sozialismus ist zwar mit einer katastrophalen Bilanz voller Verarmung historisch gescheitert, aber als Fiktion und Vision immer virulent.
Und noch eine zweite verbreitete Erzählung ist zu korrigieren. Zur Bewältigung der Corona-bedingten wirtschaftlichen Einbrüche haben Staaten und Notenbanken Billionen zur Verfügung gestellt. Hämische Kommentare der Kapitalismuskritiker, jetzt sehe man wieder, wie der Markt versage und der Staat rette, sind allerdings verfehlt. Extreme Notlagen, die nicht vom Wirtschaftssystem verursacht werden, können natürlich nur vom Staat abgemildert werden. Kein noch so überzeugter Kapitalist wird das in Abrede stellen. Er wird auch nicht bestreiten, was nicht zu bestreiten ist: Der Markt allein kann nicht alle Probleme lösen. Er versagt etwa dabei, die wachsende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen innerhalb eines Landes zu bremsen. Er versagt auch bei der umweltund klimaschonenden Produktion. Auch hier muss der Staat der starke Player sein, der die Regeln oder die finanziellen Anreize setzt. Die Alternative „Staat oder Markt“ist eine Schein-alternative. Es geht nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um das richtige Grau.
Die milliardenschwere Beteiligung des Bundes an der unverschuldet strauchelnden Lufthansa ist nötig und richtig, so wie die Staatsbeteiligung an der Commerzbank während der Finanzkrise nötig und richtig war. Die Finanzkrise ist jedoch längst vorbei, aber der Bund ist immer noch mit an Bord. Achim Wambach, Chef der Monopolkommission, leitet daraus seine Bedenken ab: „Ich fürchte, dass die Eingriffe zum Dauerzustand werden.“Deshalb verlangt die EU in solchen Fällen einen Ausstiegsplan.
Für die Beteiligung am Tübinger Biotech-unternehmen Curevac führt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier medizin-strategische Gründe ins Feld – und begibt sich damit auf ein wettbewerbsund ordnungspolitisch unhaltbares Fundament. Warum Millionen für Curevac, aber nichts für die Konkurrenz?
Eine Marktwirtschaft ohne Staat ist ein Phantom – es gibt sie nicht. Die sogenannten öffentlichen Güter nehmen in der Wissenschaft ebenso wie in der Wirklichkeit einen breiten Raum ein. Zu ihnen zählen nicht nur Luft oder Klima, sondern auch Bürgersteige, Straßenbeleuchtung und andere Formen der Infrastruktur. Wasser- oder Energieversorgung, Mobilität (Bahn, U-bahnen) oder Theater werden meist ebenfalls vom Staat betrieben. Das historisch falsch abgeleitete, aber von allen Kritikern verwendete Schimpfwort „neoliberal“nennt unter anderem die Privatisierung solcher Einrichtungen als verkehrte Weichenstellung. Wobei gern unerwähnt bleibt, dass die öffentliche Hand ihr Eigentum – etwa kommunale Wohnungen – nicht unter Zwang verkauft hat, sondern weil sie das Geld dafür brauchte.
Soll jetzt aus der Corona-not eine Tugend gemacht werden und der Staat wieder verstärkt als Unternehmer auftreten? Es wäre eine Untugend, die unweigerlich zu weniger Wohlstand, Wachstum und Innovation führte. Während es zum guten Ton in Talkshows und auf der Theaterbühne gehört, die vom Kapitalismus ausgehende Verelendung der Welt anzuprangern, wird das Versagen des Staates als Unternehmer allenfalls von Ökonomen thematisiert. Eine Firma, in dem Politiker das Sagen haben, wird wenig Erfolg haben, wenn sie sich mehr an gesellschaftlich noch so erwünschten Zielen als an den Bedürfnissen der Kunden, also am Wettbewerb, ausrichtet.
Amartya Sen, Wirtschaftsnobelpreisträger und Philosoph, ist vor wenigen Wochen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. In seinem Buch „Ökonomie für den Menschen“hat der Inder herausgearbeitet, warum ein Wirtschaftssystem auf die Freiheit des Einzelnen angewiesen ist, zugleich aber auch seiner sozialen Verantwortung
stärker gerecht werden muss. „Nur müssen wir uns hüten, wieder in die Narrheit von gestern zurückzufallen, in die Weigerung, die Vorteile, ja die Notwendigkeit des Marktes anzuerkennen.“Das hat der weltweit hochgeachtete Gelehrte schon vor 20 Jahren geschrieben. Es ist heute aktueller denn je, da eine neue Balance zwischen Staat und Markt gesucht werden muss.
Die USA, das Musterland wirtschaftlicher Dynamik und Innovation, machen soeben wieder die Erfahrung, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinanderbricht, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich zu groß wird. Der Us-ökonom und Nobelpreisträger Angus Deaton hat mit seiner Frau Anne Case diesen langfristigen Trend untersucht und in dem Buch „Verzweiflungstode und die Zukunft des Kapitalismus“beschrieben. Auch sie bauen auf einen starken Staat – aber einen, der für mehr Markt sorgt: „Wir brauchen für große Konzerne wie Amazon wieder echten Wettbewerb und eine wirksame Regulierung. Das heißt, deren Marktmacht muss beschränkt werden. Dann fließt das Geld von den wenigen Superreichen wieder zurück an die breite Mittelschicht.“ Grund zur Hoffnung
Die neue Balance verlangt nicht nach klassenkämpferischer Umverteilung und neuen Staatsunternehmen. Sie verlangt einen starken Schiedsrichter-staat, der die Konzerne zu mehr Wettbewerb, Steuergerechtigkeit und klimaverträglicher Ausrichtung zwingt. Ein Kronzeuge dieses Konzeptes ist auch Klaus Schwab, seit 50 Jahren Chef des Weltwirtschaftsforums und gewiss kein Neoliberaler. In seinem Buch über die Folgen der Corona-krise („The Great Reset“– „Der große Neustart“) dringt er nicht auf Systemveränderung, sondern auf Systemverbesserung. Der Kapitalismus ist für ihn nicht das Problem, sondern die Lösung. „Ich bin davon überzeugt, dass die unternehmerische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten Fortschritt ist – und nicht der Staat“, sagt er.
Corona hat dem Pendel einen kräftigen Stoß Richtung Staatsmacht versetzt. Ein weiterer bedenklicher Trend wird von Corona verstärkt, ausgelöst hat ihn vier Jahre zuvor Us-präsident Donald Trump: Nationalismus, Protektionismus und Handelskriege bremsen den globalen Warenaustausch. Die Produktion von Medikamenten wird teilweise renationalisiert, die Lieferketten werden verkürzt. Viel besser wäre es, den internationalen Wirtschaftsaustausch wieder zu verstärken. Am besten über multinationale Abkommen. Trump hat dieses System außer Kraft gesetzt. Mit seiner Abwahl keimt die Hoffnung auf, dass das Pendel wieder in die richtige Richtung zurückschlägt.
Helmut Schneider ist Diplom-volkswirt und kennt spätestens seit seinem Studium kein besseres Modell als die Marktwirtschaft.
Staat oder Markt? Es geht nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um das richtige Grau.