Die Neunte in den Sand gesetzt
Klassik Jetzt endlich: Der 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens steht an. Im Corona-jahr war von seiner Musik öffentlich und live nicht viel zu hören. Was bleibt: Zum Beispiel ein Buch des Dirigenten Christian Thielemann.
Ein Popstar wird 250“, lautete die Schlagzeile im „Spiegel“, das Magazin erzählte in seiner Titelgeschichte, warum alle Welt Ludwig van Beethoven vergöttert – das war aber schon in der Ausgabe vom 30. November 2019. Es wurde überhaupt vor einem Jahr mächtig feierlich gewirbelt mit dem Klassiker, und der Terminplan für 2020 war dann monströs. Ein Höhepunkt: Das Beethovenfest in der Heimatstadt, in Bonn, das unter dem Motto „Auferstehn, ja auferstehn“stand – aber gewissermaßen am Boden blieb.
Denn es fiel wegen der Coronapandemie weltweit ziemlich alles an Konzerten und Opernaufführungen aus. Auch das Beethovenfest wurde fast komplett um ein Jahr verschoben, auf August 2021. Was durchaus schade war. Andererseits hat Beethoven ja erst jetzt seinen runden Geburtstag – also man weiß zumindest gesichert, dass er am 17. Dezember 1770 getauft wurde.
Berliner Schnauze
Und zweitens hat Beethoven ein Riesenjubiläum auch nicht nötig, er muss, siehe oben, wirklich nicht entdeckt oder endlich vermittelt werden. Monatlich streamen etwa 5,1 Millionen Spotify-nutzer ein „Lied“Beethovens, wie das so schön heißt, darunter gerne die 5. Sinfonie (nur Johann Sebastian Bach ist mit 5,5 Nutzern beliebter). Es lohnt sich aber auf jeden Fall, sich eingehender mit dem Werk des Komponisten zu beschäftigen, fern der Hits.
Weshalb, drittens, das Beethoven-jahr doch einiges gebracht hat: zum Beispiel neue Bücher. Herausragend: „Meine Reise zu Beethoven“von Christian Thielemann.
Das ist selbstverständlich ebenso eine Reise zum Stardirigenten, also ein autobiografisches, selbstreferentielles Werk des 61-Jährigen, wie schon „Mein Leben mit Wagner“. Wieder hat Christine Lemke-matwey mit Thielemann, der als Chef die Staatskapelle Dresden leitet und als Musikdirektor der Bayreuther Festspiele amtiert, viele Gespräche geführt und seine Gedanken aufgezeichnet. Und zwar erfrischend direkt, ohne Patina. Der Berliner ist ja nicht nur als der große Konservative der Klassik und als Hüter des „deutschen Klangs“bekannt, sondern auch für seine Schoddrigkeit.
Wagnerianer, Karajan-schüler, Furtwängler-jünger – klar, für diese Spezies ist Beethoven der Maßstab. Thielemann kommt nun wirklich nicht aus der Ecke der historisch informierten Dirigenten, er denkt gewissermaßen größer. Er äußert sich nicht nur über Tonarten und Tempi, sondern über gutes und schlechtes Pathos,
Geniekult, politische Botschaften. Grundsätzlich geht Thielemann in den Kapiteln vor allem die Sinfonien durch, als ob er sie zyklisch aufführte. Faszinierend, wie Thielemann detailliert, ganz praktisch kapellmeisterlich die Sache analysiert. Und sehr ehrlich sein Tun reflektiert: „Man sollte die Neunte möglichst früh in seiner Karriere dirigieren – um sie früh in den Sand zu setzen“.
So ist es ihm ergangen. Lehrjahre mit Beethoven, gewachsen an einem Werk, das unfassbar ist. Aber man dürfe bei diesem Komponisten auch nicht seine Unschuld verlieren, sagt Thielemann: „Es wäre ja furchtbar, wenn man nur noch als alter Sack zum Pult schlurft und denkt: Ich weiß sowieso alles. Das wäre das Ende der Musik.“
Das Finale der Neunten mit der „Ode an die Freude“, von Beethoven in völliger Taubheit komponiert, hält er nicht für den schwierigsten Satz, eher für „etwas Hysterisches“. Das sehr fragile, „irre anspruchsvolle“Adagio ist dagegen für Thielemann „der Kulminationspunkt des Dirigierens“überhaupt. Wie den Ausdruck treffen? „Im Grunde sagt Beethoven (überspitzt formuliert): Du hast zwei Sätze lang den Rotlicht-bezirk abgegrast, jetzt zeig mal, dass du trotzdem noch die Unschuld vom Lande bist!“
Das ist ein typischer Thielemann. Für ihn sei die Beschäftigung mit Beethoven mehr als die Aufgabe, geniale Noten zum Leben zu erwecken: „Sie ist eine Existenzweise, ein Credo.“Davon wolle er in diesem Buch erzählen. Was ihm gelungen ist. Beethoven müsse man leben. Und das kann man immer, auch nach dessen 250. Geburtstag.
Es wäre ja furchtbar, wenn man nur noch als alter Sack zum Pult schlurft. Christian Thielemann
Dirigent