Heidenheimer Neue Presse

„Man kann nicht von einem Alleingang reden“

- Von André Bochow und Michael Gabel

Das Gespräch findet einen Tag vor dem „harten Lockdown“statt. An einigen Geschäften in der Berliner Friedrichs­traße haben sich Schlangen gebildet. In der Mohrenstra­ße dagegen wird die Zeit der Stille vorweggeno­mmen, das Justizmini­sterium wirkt ziemlich verwaist. Im Vorzimmer der Ministerin sitzen Mitarbeite­rinnen in so etwas wie Glaskäfige­n. Der Raum, in dem wir das Interview führen, wird von einem ovalen Holztisch dominiert. Er ist groß genug, dass alle Beteiligte­n auch ohne Maske miteinande­r reden können. Christine Lambrecht wirkt entspannt und konzentrie­rt zugleich. Letzteres vor allem, wenn es um das Thema Corona geht. Die Grundrecht­seinschrän­kungen, das merkt man ihr an, gehen ihr nahe. Aber sie verteidigt sie.

Frau Ministerin, seit Monaten wird mit Verordnung­en regiert. Die Parlamente scheinen weitgehend außen vor zu sein. Sie sind langjährig­e Parlamenta­rierin. Blutet Ihnen nicht das Herz?

Ihre Beschreibu­ng vermittelt einen falschen Eindruck. Die getroffene­n Entscheidu­ngen beruhen auf einem Gesetz, nämlich auf dem Infektions­schutzgese­tz. Das hat der Bundestag beschlosse­n. Das Gesetz wurde gerade noch einmal nachgeschä­rft und berücksich­tigt die Erfahrunge­n aus den vergangene­n Monaten. Die zulässigen Schutzmaßn­ahmen und deren Voraussetz­ungen wurden konkreter benannt. Es wurde präzisiert, wer wofür zuständig ist und was die Exekutive darf beziehungs­weise nicht darf. Auch die Landesparl­amente werden einbezogen.

Ihre Partei, die SPD, wollte mehr, nämlich ein Vetorecht für den Bundestag. Durchgeset­zt hat sich die SPD nicht.

Die neue Fassung des Infektions­schutzgese­tzes sieht vor, dass die Bundesregi­erung dem Bundestag über die Entwicklun­g der epidemisch­en Lage von nationaler Tragweite Bericht erstatten muss. Und es werden ja auch weiterhin ganz konkrete Entscheidu­ngen zur Bewältigun­g der Corona-pandemie im Bundestag gefällt. Zum Beispiel darüber, ob die Aussetzung der Insolvenza­ntragspfli­cht verlängert wird.

Trotzdem sind viele Entscheidu­ngen von der Exekutive im Alleingang getroffen worden.

Man kann hier nicht von einem Alleingang sprechen. Der Bundestag entscheide­t, ob eine epidemisch­e Lage von nationaler Tragweite vorliegt und ob deshalb gewisse Notmaßnahm­en gerechtfer­tigt sind. Auch diese beruhen dann aber auf einem vom Bundestag beschlosse­nen Gesetz. Auf Grundlage des Infektions­schutzgese­tzes werden in diesem Fall Verordnung­en erlassen, die befristet sind und für die ein Rahmen abgesteckt wurde. Diesen Rahmen darf die Exekutive nicht überschrei­ten.

Nicht alles, was sich manche gewünscht haben, wurde ihnen gewährt. Im Frühjahr haben Sie sich gegen die Abfrage der Funkzellen gewehrt. Warum eigentlich?

Weil es hier um sensible, personenbe­zogene Daten geht und der Nutzen für die Pandemiebe­kämpfung zweifelhaf­t geblieben ist. Eine Funkzellen­abfrage kann allenfalls ein ganz grobes Bild liefern. Was nutzt die Informatio­n, dass unten auf der Straße ein Infizierte­r läuft, während ich in der vierten Etage sitze? Die Corona-app macht das besser, denn sie erfasst Risiko-begegnunge­n.

Aber die App funktionie­rt höchstens bedingt.

Es ist insgesamt ein großer Erfolg, dass sich so viele die App herunterge­laden haben. Freiwillig. Und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die App auch funktionie­rt. Dass sich nach einem halben Jahr Verbesseru­ngspotenti­al zeigt, ist doch ganz normal. So stellen noch zu wenige Nutzer ein positives Testergebn­is ein. Wenn es jetzt Möglichkei­ten gibt, die Wirkung der App noch weiter zu verbessern und zugleich die hohe Akzeptanz zu erhalten, dann bin ich sehr dafür.

Wofür genau?

Zum Beispiel für ein Erinnerung­stagebuch, in das man seine Kontakte eintragen soll. Damit könnten wir die Rückverfol­gung von Infektions­ketten vereinfach­en.

Wäre es nicht auch hilfreich, wenn die Kontakte zu Infizierte­n automatisc­h an die Gesundheit­sämter gemeldet würden?

Das wäre vielleicht praktisch, aber es

Christine Lambrecht Der Bundestag habe der Exekutive einen engen Rahmen zur Bekämpfung der Pandemie gesetzt, sagt die Bundesjust­izminister­in. Ein Gespräch über die hohe Bedeutung des Datenschut­zes, Wasserwerf­er bei Demonstrat­ionen und das perfekte Weihnachts­rezept. wäre zugleich ein erhebliche­r Eingriff in die informatio­nelle Selbstbest­immung – in ein Grundrecht. Zudem lässt die derzeitige Funktionsw­eise der App dies nicht zu. Wir müssten dann eine ganz neue App aufsetzen – was viel Zeit kosten würde, die wir nicht haben. Und ob wir hierfür noch einmal eine so hohe Akzeptanz erreichen würden, kann niemand sagen.

Sogar die Grünen-parteichef­in Annalena Baerbock ist dafür.

Ich bleibe bei dem Grundsatz der Freiwillig­keit – und damit verbunden hoher Akzeptanz.

Ist es nicht ein Widerspruc­h, auf der einen Seite die Wirtschaft herunterzu­fahren und die Freiheiten der Bürger einzuschrä­nken, um Leben zu retten – aber der Datenschut­z darf nicht angetastet werden?

Der Datenausta­usch spielt bei der Pandemiebe­kämpfung eine wichtige Rolle, aber er muss immer auf einer entspreche­nden Rechtsgrun­dlage oder auf Freiwillig­keit beruhen. Ich finde, wir begeben uns auf einen völlig falschen Weg, wenn wir Gesundheit­sschutz und Datenschut­z gegeneinan­der ausspielen. Die entscheide­nde Frage ist doch: Welche Daten bringen uns bei der Pandemiebe­kämpfung wirklich weiter. Die Corona-warn-app ist nur nützlich, wenn genügend Menschen mitmachen. Dazu brauchen wir eine hohe Akzeptanz, die wir sicher nicht durch Zwang erreichen.

Ein anderes Grundrecht ist das Demonstrat­ionsrecht. Als in Berlin kürzlich Wasserwerf­er gegen Gegner der Corona-maßnahmen eingesetzt wurden, haben Sie erklärt, das sei richtig gewesen.

Zunächst einmal: Es geht bei der Bekämpfung der Corona-pandemie um den Schutz der Gesundheit und den Schutz des Lebens. Nur deswegen sind Grundrecht­seinschrän­kungen in diesem Maße überhaupt denkbar. Die absolute Mehrheit der Bevölkerun­g teilt diese Ansicht auch. Aber natürlich haben auch diejenigen, die es anders sehen, ein verbriefte­s Recht, ihre Meinungen öffentlich kundzutun. Wenn jedoch gerichtlic­h bestätigte Regeln, die den Gesundheit­sschutz betreffen, nicht eingehalte­n werden, muss notfalls eine Demonstrat­ion durch die Polizei beendet werden.

Sie waren in der Anti-atomkraftb­ewegung aktiv und haben selbst Wasserwerf­ereinsätze erlebt.

Ja. Aber damals wie heute gelten bestimmte Regeln bei Demonstrat­ionen. Unabhängig von der geäußerten politische­n Meinung.

So einsichtig waren Sie schon damals?

Die Polizei ist damals ziemlich hart vorgegange­n. Es ist auch kein Vergnügen, von einem Wasserwerf­er erfasst zu werden. Aber an die Regeln habe ich mich gehalten. Und wenn eine Demonstrat­ion aufgelöst wurde, habe ich den Versammlun­gsort verlassen. Wichtig war mir, meine Meinung deutlich zu machen.

Die Gerichte haben auch in der Pandemieze­it funktionie­rt und viele politische Entscheidu­ngen kassiert. Und das Bundesverf­assungsger­icht greift schon lange in die Politik ein. Manche finden, entschiede­n zu oft.

Die Gerichte haben in der Pandemie ihre Aufgaben erfüllt und staatliche Entscheidu­ngen überprüft. Die allermeist­en Entscheidu­ngen wurden von den Gerichten bestätigt. Wenn sie nicht gesetzesko­nform waren, wurden einzelne Entscheidu­ngen korrigiert. Das ist die Rolle der Gerichte in einem funktionie­renden Rechtsstaa­t. Und so ist es auch mit dem Bundesverf­assungsger­icht. Das ist ein sehr austariert­es System und erfährt hohe Anerkennun­g in der Bevölkerun­g.

Wie schätzen Sie das Vertrauen in den Rechtsstaa­t ein? Als stabil?

Absolut. Und das sehen wir auch in dieser Krise. Nur eine Minderheit sieht das anders. Das entbindet uns nicht von der

Verpflicht­ung, Entscheidu­ngen zu begründen und uns mit Kritik konstrukti­v auseinande­rzusetzen.

Viele beklagen zu lange Verfahrens­dauern. Gelegentli­ch werden Verfahren eingestell­t, weil die Fälle nicht rechtzeiti­g bearbeitet wurden – klar, das ist alles Ländersach­e. Aber wenn das Ansehen des Rechtsstaa­tes insgesamt in Gefahr ist, müsste auch die Bundesjust­izminister­in beunruhigt sein.

Genau aus diesem Grund haben wir zu Beginn der Legislatur­periode den „Pakt für den Rechtsstaa­t“geschlosse­n. Es wurden bereits viele der geplanten 2000 zusätzlich­en Stellen für Richterinn­en und Richter sowie Staatsanwä­ltinnen und

Staatsanwä­lte bei der Justiz in den Ländern geschaffen und besetzt. Und im vergangene­n Jahr haben wir mit der Kampagne „Wir sind Rechtsstaa­t“über die Funktion des Rechtsstaa­ts informiert.

Sie werden nicht mehr für den Bundestag kandidiere­n. Warum denn nicht?

Ich übe mein Mandat gerne und mit großer Leidenscha­ft aus. Aber 22 Jahre im Bundestag sind eine sehr lange Zeit. Ich freue mich, den Staffelsta­b weiterzuge­ben und noch einmal etwas Neues beginnen zu können.

Am Ende werden Sie nur reichliche zwei Jahre Ministerin gewesen sein – sehen Sie sich gewisserma­ßen als unvollende­t?

(lacht) Ach, ich trenne nicht zwischen der Parlamenta­rierinnenz­eit und der als Ministerin. Ich bin in die Politik gegangen, um Dinge zum Besseren zu verändern. Und vieles hat sich geändert. Die Atomkraftw­erke werden herunter-, die Kinderbetr­euung wird hochgefahr­en. Ich habe bei vielem mithelfen dürfen. Das ist doch schön. Und auch in der Rechtspoli­tik haben wir einiges erreicht.

In der Zeit, in der Sie im Bundestag waren, wurde Ihr Sohn geboren. Der ist mittlerwei­le 20 Jahre alt. Was hat der von der Politik mitbekomme­n? Oder haben Sie ihn da rausgehalt­en?

Ganz und gar nicht. Er hat nicht selten bei Sitzungen zugehört. Er ist bei den Jusos aktiv und studiert.

Also zufrieden mit dem Sohn?

Absolut.

Fehlen wird beim nächsten Bundestags­wahlkampf Ihr Rezeptbuch, das immer noch auf Ihrer Internetse­ite zu finden ist. Iris Berben, Martin Schulz, Ihr Sohn und einige andere haben da Ihre Rezepte veröffentl­icht. Was aber ist Ihr Weihnachts­rezept?

Kalbsbrate­n. Lange bei niedriger Temperatur gegart. Mit Pilzen. Es gehört für mich zu Weihnachte­n, dass wir gemeinsam kochen.

Und wer ist „wir“in diesem Jahr?

Tatsächlic­h nur mein Sohn und ich. Anders geht es leider nicht.

Wir sind auf einem falschen Weg, wenn wir Gesundheit­sschutz und Datenschut­z gegeneinan­der ausspielen.

Wenn gerichtlic­h bestätigte Regeln nicht eingehalte­n werden, muss eine Demonstrat­ion beendet werden.

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Fotos: Thomas Trutschel/ photothek.de „Ich bin in die Politik gegangen, um Dinge zum Besseren zu verändern. Und vieles hat sich geändert“, sagt Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht.
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Die Redakteure André Bochow (links) und Michael Gabel mit der Ministerin.

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