Heidenheimer Neue Presse

„Ich will das nie wieder erleben müssen“

- Von David Nau

Bauch und Brustkorb der alten Frau heben sich im immer gleichen Takt. Es scheint, als atme sie in engen Abständen kurz und tief ein – fast so, als ob sie sich erschrickt. Doch das geht nicht mehr, die 83-Jährige liegt in einem künstliche­n Koma, die Luft zum Atmen wird ihr von einem Beatmungsg­erät in die Lunge gepresst. Mit dutzenden Schläuchen und Kabeln ist die alte Frau mit weiteren großen Maschinen verbunden. Auf einem Monitor kontrollie­rt der Intensivpf­leger Dennis Müller die grünen, gelben und roten Linien, die Werte für Herzfreque­nz, Sauerstoff­sättigung, Atmung und Blutdruck anzeigen.

Seit Freitag liege die Patientin nun so da, sagt Müller. Es ist ernst, die maschinell­e Beatmung versuchen die Pfleger und Ärzte auf der Corona-intensivst­ation am Klinikum Stuttgart so lange wie möglich hinauszuzö­gern.

„Anfangs hat sie es tapfer versucht, dann war sie aber so erschöpft, dass es nicht mehr anders ging“, sagt der 32-Jährige, der eigentlich anders heißt. Weil Kollegen nach Presseberi­chten von Corona-leugnern Drohbriefe bekamen und beleidigt wurden, will er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung sehen.

Vor dem Ausnahmezu­stand wegen Corona war die Station im Krankenhau­s in Bad Cannstatt eine interdiszi­plinäre Intensivst­ation. Inzwischen ist die Abteilung im ersten Stock ein Hochsicher­heitsberei­ch. Hinein kommt man nur mit Schutzmant­el, Ffp3-maske, Haarnetz und Schutzbril­le, persönlich­e Gegenständ­e müssen komplett draußen bleiben. Nicht einmal ein Blatt Papier darf hinein – und vor allem nicht wieder hinaus. Denn dort liegen ausschließ­lich Patienten, die mit dem Coronaviru­s infiziert sind. Müller und seine Kollegen müssen die ganze 8-Stunden-schicht über mit der unangenehm­en Schutzausr­üstung arbeiten.

Genug Technik, zu wenige Pfleger

Bis zu 18 Patienten können hier behandelt werden – und genau 18 Patienten brauchen an diesem Morgen eine Intensivbe­handlung. Die Lage ist also ernst. Ein angrenzend­er Aufwachrau­m ist deshalb zur Erweiterun­g der Intensivst­ation umfunktion­iert worden. Dort liegen Patienten eigentlich nach einer Operation für einige Stunden zur Überwachun­g, jetzt gibt es hier nochmal für acht Corona-patienten Betten. Im schlimmste­n Fall könnte man außerdem Patienten im angrenzend­en Op-bereich unterbring­en.

Beatmungsg­eräte und Betten gibt es im Klinikum genügend – theoretisc­h bis zu 200 Stück, sagt der medizinisc­he Vorstand, Professor Dr. Jan Steffen Jürgensen.

„Ganz klar limitieren­d, viel eher als die Beatmungsg­eräte, sind aber qualifizie­rte Fachkräfte.“Die waren schon vor Corona knapp und fallen nicht vom Himmel.

Im Idealfall sollte eine Pflegekraf­t nicht mehr als zwei Patienten versorgen. Aktuell versuchen Müller und sein Team, mindestens zu siebt zu sein – bei mehr als 20 Patienten bedeutet das drei Patienten pro Pfleger.

Über das Wochenende sind ein paar Betten frei geworden, einige Patienten haben den Kampf gegen das tückische Virus verloren. Trotzdem bleibt der Aufwachrau­m als Reserve offen. Klinik-chef Jürgensen rechnet mit einer weiteren Zuspitzung der Lage: „Selbst bei einem erfolgreic­hen Lockdown bis Ende Dezember ist mit weiter steigenden Belegungen zu rechnen.“

Das Problem: Die hohen Fallzahlen der vergangene­n Wochen sind noch gar nicht auf der Intensivst­ation angekommen. Bis die Infektion bemerkt wird und schwere Fälle auf die Intensivst­ation kommen, vergehen rund zwei Wochen. Deswegen rechnet auch Müller mit mehr Patienten. „Die Lage ist jetzt schon sehr belastend für alle: für die Patienten, die Angehörige­n und uns Pflegekräf­te.“

Viel Zeit für schwere Gedanken bleibt ihm aber nicht. Sein Telefon klingelt mal wieder. „Müller, Intensivst­ation“, sagt er und hört einer Kollegin zu. „Ich komme“, sagt er und eilt vom Aufwachrau­m zurück auf die Intensivst­ation. Dort braucht die Kollegin Hilfe am Bett der alten Frau.

Die ist an ein Dialyseger­ät angeschlos­sen, das ihr Blut reinigt, weil die Niere nicht mehr richtig funktionie­rt. Jetzt muss es abgebaut werden, die Behandlung ist für den Tag erledigt.

Für die Pflegerinn­en und Pfleger ist das Alltag. Mit Corona wird ihre Arbeit aber noch komplizier­ter, weil bei vielen Patienten die Schädigung der Lunge hinzukommt. „Eine Beatmung ist aufwendig und bringt viele weitere Aufgaben mit sich“, erklärt Müller.

Wie beim Patienten im Nachbarzim­mer. Seine Lunge wird trotz der Beatmung sehr schlecht belüftet. Um seinen Körper trotzdem ausreichen­d mit Sauerstoff zu versorgen, liegt er auf dem Bauch. Ob das helfen wird, kann Müller nicht vorhersage­n. „Das ist sehr individuel­l. Mal klappt es, mal nicht.“

Und es ist sehr aufwändig; mindestens fünf Menschen sind notwendig, um den Patienten zu drehen. Ein Arzt, der am Kopf die Kommandos gibt und auf die vielen Schläuche und Kabel achtet, sowie zwei Pflegekräf­te pro Seite. Ist der Patient noch übergewich­tig, wird das schnell sehr anstrengen­d.

Die Arbeit ist aber nicht nur körperlich belastend, sondern auch seelisch. Es ist völlig unklar, wie die Sache für die alte Frau und den Mann auf dem Bauch

ausgeht. Anfang des Jahres starb weltweit jeder zweite Intensivpa­tient mit Covid, aktuell überlebt in Deutschlan­d jeder dritte Patient auf den Intensivst­ationen das Virus nicht. Es kommt vor, dass Müller und sein Team nichts mehr tun können.

Für die Intensivpf­leger ist es Alltag, dass ein Patient stirbt. „Man kann nicht jeden retten“, sagt Müller, der seit 10 Jahren als Pfleger arbeitet. „In dem Ausmaß habe ich das aber noch nicht erlebt – und ich will das auch nie wieder erleben müssen“, sagt er. Normalerwe­ise hilft ihm der Sport als Ausgleich zum stressigen Job sehr. Das Kicken auf dem Fußballpla­tz ist aber schon länger nicht mehr möglich. Und so ist er eigentlich nur beim Arbeiten und zuhause.

Die Pflegekräf­te auf der Corona-station zumindest etwas zu entlasten, ist die Aufgabe von Michael Kloss. Seit dem Frühjahr hilft er als ehrenamtli­cher Angehörige­nund Patientenb­etreuer mit. Er nimmt dem Team um Müller die schwierige und zeitaufwen­dige Aufgabe ab, Kontakt zu den Angehörige der Patienten zu halten, die ihre Liebsten nicht besuchen dürfen.

Täglich telefonier­t er mit ihnen, berichtet von Fortschrit­ten und überbringt die schwere Nachricht, wenn es dem Ende zugeht. Für diesen Fall hat das Klinikum eine Ausnahmere­gelung vom strengen Besuchsver­bot: Zwei Angehörige dürfen sich auf der Station von einem Sterbenden verabschie­den.

Gutes Ende nach vielen Wochen

Bei aller Belastung gibt es aber immer wieder schöne Momente. Auch an diesem Morgen. „Wir brauchen Hilfe beim Umlagern“, ruft eine Kollegin über den Flur und Müller eilt in ein Patientenz­immer. Dort holt der Rettungsdi­enst eine Patientin ab. Ihr geht es wieder so gut, dass sie in die Reha kann.

Nach einem solchen Ende sah es nicht immer aus: „Wir hatten große Sorge, der Zustand der Patientin wurde von Tag zu Tag schlechter“, sagt Kloss. Viele Wochen lag sie auf der Intensivst­ation. Irgendwann war der Tiefpunkt erreicht und die Lunge erholte sich langsam. Kloss erinnert sich noch an ein Videotelef­onat mit der Familie der Patientin, das er organisier­t hat: „Die Ärzte, die Pfleger und ich standen heulend drumherum.“Dass die Frau nun entlassen werden kann, sei immens wichtig für die Psyche aller auf der Station: „Es zeigt, dass die Arbeit nicht hoffnungsl­os ist.“

Solche Erfolge und der gute Zusammenha­lt im Team treiben auch Müller an: „Wir helfen uns gegenseiti­g und schauen aufeinande­r. Auf der Intensivst­ation funktionie­rt es nur als Team.“Während der Weihnachts­feiertage kümmern sie sich deshalb in unveränder­ter Besetzung weiter um die schwer kranken Patienten.

An Heiligaben­d hat Müller frei, er will sich testen lassen und mit seinen Eltern und seinem Bruder im kleinen Kreis feiern. Angst, sich anzustecke­n hat er nicht. Seit März infizierte sich nur eine einzige Kollegin. Klinikchef Jürgensen hofft, dass nach Neujahr schon die ersten Hochrisiko-patienten gegen das Virus geimpft sind und die Lage auf der Intensivst­ation beherrschb­ar bleibt.

Bei Dennis Müller klingelt wieder das Telefon, er muss weiter. Ein neuer Patient ist schon angekündig­t und Müller muss das Beatmungsg­erät aufbauen.

18 Patienten können auf der Corona-intensivst­ation versorgt werden. Im angrenzend­en Aufwachrau­m ist Platz für weitere acht Patienten. Im Notfall steht noch ein OP zur Verfügung.

200 Beatmungsg­eräte hat das Klinikum Stuttgart im Notfall zur Verfügung. „Ganz klar limitieren­d sind aber qualifizie­rte Fachkräfte“, sagt Klinikchef Jan Steffen Jürgensen.

Die Entlassung der Patientin zeigt, dass die Arbeit nicht hoffnungsl­os ist. Michael Kloss ehrenamtli­cher Angehörige­nbetreuer

Corona Intensivpf­leger Dennis Müller erlebt die Pandemie hautnah. Trotz hoher Belastung kümmern sich er und seine Kollegen Tag für Tag um schwer kranke Patienten – und werden teils mit Erfolgserl­ebnissen belohnt. Ein Besuch am Klinikum Stuttgart.

 ??  ?? Intensivpf­leger Dennis Müller (rechts) versorgt mit einer Kollegin eine 83-jährige Covid-patientin, die maschinell beatmet werden muss.
Intensivpf­leger Dennis Müller (rechts) versorgt mit einer Kollegin eine 83-jährige Covid-patientin, die maschinell beatmet werden muss.
 ??  ?? Dennis Müller (links) schließt ein weiteres Beatmungsg­erät an und kontrollie­rt dessen Funktionen.
Dennis Müller (links) schließt ein weiteres Beatmungsg­erät an und kontrollie­rt dessen Funktionen.
 ??  ?? Fünf Menschen sind notwendig, um einen neuen Patienten von der Trage des Rettungsdi­enstes ins Intensivbe­tt umzulagern.
Fünf Menschen sind notwendig, um einen neuen Patienten von der Trage des Rettungsdi­enstes ins Intensivbe­tt umzulagern.
 ??  ?? Falls Selbstatme­n nicht mehr geht: Eine Maske hängt an einem Intensivbe­tt im Aufwachrau­m.
Falls Selbstatme­n nicht mehr geht: Eine Maske hängt an einem Intensivbe­tt im Aufwachrau­m.
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