Heidenheimer Neue Presse

Im täglichen Tosen

- Ellen Hasenkamp zum Bundespräs­identen in der Corona-krise leitartike­l@swp.de

Die Verantwort­ung jedes Einzelnen für das Gemeinwese­n, das war das Thema, das Frank-walter Steinmeier in den Mittelpunk­t seiner Weihnachts­ansprache vor einem Jahr stellte. „Sie alle haben ein Stück Deutschlan­d in der Hand“, appelliert­e er damals an die Bürger. So ähnlich könnte der Bundespräs­ident auch in diesem Dezember klingen: Statt Streitkult­ur und Demokratie­förderung dürfte diesmal allerdings Corona die Rede prägen. Tatsächlic­h hat Steinmeier den Aufruf „wir alle haben das in der Hand“auch schon einmal in Bezug auf den Kampf gegen die Pandemie verwendet. Zu Ostern war das – als der Bundespräs­ident sich außerplanm­äßig über das Fernsehen an die Bürger gewandt hatte.

Nun, ein Dreivierte­ljahr später, wütet das Virus noch immer. Von der schlimmste­n Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hat selbst die nüchterne Kanzlerin gesprochen. Eine Zeit wie geschaffen für ein Staatsober­haupt, sollte man meinen, und für einen angesehene­n und beliebten Menschen wie Steinmeier allemal. Während die Politik von früh bis spät mit Lockdown-beschlüsse­n und Wirtschaft­s-sanierung beschäftig­t ist, liegt das Feld der Moral weitgehend brach. Die große Corona-rede; immer wieder wurde und wird sie gefordert – meist allerdings von Angela Merkel. Umgekehrt entfaltet derzeit jeder emotional eingefärbt­e Halbsatz der Kanzlerin eine Wucht, die ihre in 15 Jahren gehaltenen Reden selbst zusammenge­nommen nicht erreichten.

Es ist die Stunde der Exekutive. Auch der Bundestag kann ein Lied davon singen, wie schwer es ist, in der Pandemie gehört zu werden. Gehör finden und sich Gehör verschaffe­n, das ist es aber, wovon das Wirken des Präsidente­n lebt und was derzeit eben nur schwer zu bewerkstel­ligen ist. Im täglichen Tosen der neuesten Infektions­zahlen, im Streit über Lockdown leicht oder Lockdown hart, im Gezerre um Ausgleichs­zahlungen geht das bloße Wort leicht unter. Steinmeier, der als Kanzleramt­schef, Außenminis­ter und auch als Opposition­sführer über jede Menge Krisenerfa­hrung verfügt, wird das wissen und womöglich sogar bedauern. Eines aber ist für ihn klar: „Chefkommen­tator oder Oberbeguta­chter von täglichen Regierungs­entscheidu­ngen“will er nicht sein, so sagte er es kürzlich selbst.

Was für ein Kontrast allerdings zu der Krise, mit der er es gleich im ersten Jahr seiner Amtszeit zu tun bekam, als die Jamaika-verhandlun­gen platzten und Deutschlan­d plötzlich ohne Regierung da stand. Mit wuchtigen Worten und sanftem Schieben gelang es Steinmeier damals, die SPD Richtung Groko zu bewegen. Der Bundespräs­ident hatte so dem Land eine Krise erspart und gleich auch noch den Sinn seines Amtes unter Beweis gestellt. Jetzt aber bleibt ihm vor allem, „Hoffnung und Zuversicht“zu vermitteln. Er tut es beinahe täglich, vor allem in kleinem Format; beim Besuch im Impfzentru­m, mit Lichtinsta­llationen am Schloss Bellevue, in zahllosen Corona-runden mit Pflegenden, mit Genesenen, mit Angehörige­n, mit Unternehme­rn. Jetzt also die Fernsehans­prache zum Fest. Das ist das große Format.

Die große Corona-rede wird immer wieder gefordert – meist allerdings von Angela Merkel.

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