Heidenheimer Neue Presse

„Kindern geht die Kraft aus“

Übersetzen, vermitteln: Für ihre Eltern übernehmen Jugendlich­e oft zahlreiche Aufgaben. Das ist für viele eine zu große Belastung, sagen Experten.

- Von Elisabeth Zoll

Ja nicht auffallen. Viele Kinder, die mit ihren Eltern in den letzten Jahren nach Deutschlan­d geflüchtet sind, haben das verinnerli­cht. Nicht auffallen, damit die durch die Flucht schon überforder­ten Eltern nicht weiter belastet werden. Nicht auffallen, damit sich die Lehrer nicht bei Vater und Mutter beschweren. Nicht auffallen, damit zu den vielen Aufgaben, die Kinder in Familien von Geflüchtet­en übernehmen müssen, nicht noch weitere hinzukomme­n.

„In diesen Familien haben die Kinder meist die Rolle des Außenminis­ters“, beschreibt Andreas Mattenschl­ager, Leiter der Psychologi­schen Familien- und Lebensbera­tung der Caritas Ulmalb-donau (BFL). Weil sie die deutsche Sprache schneller lernen, begleiten Kinder ihre Eltern zu Behörden, übersetzen, vermitteln. Mattenschl­ager: „Diese Kinder sind oft total überforder­t.“Fünf Jahre nach der großen Flüchtling­swelle zeigt sich das nach Beobachtun­g des Familienbe­raters immer deutlicher. „Vielen Kindern und Jugendlich­en geht die Kraft aus.“Manche von ihnen werden auffällig in der Schule, andere tauchten ab in eine innere Welt, wieder andere reagieren aggressiv – oft gegen sich selbst.

Weil Kinder, die mit ihren Eltern nach Deutschlan­d gekommen sind, oftmals durch das deutsche Hilfesyste­m fallen, kooperiere­n im Südwesten die Psychologi­sche

Familien- und Lebenshilf­e der Caritas mit dem Behandlung­szentrum für Folteropfe­r Ulm (BFU) und mit Refugio, dem psychosozi­alen Zentrum für traumatisi­erte Flüchtling­e in Villingen-schwenning­en.

Das ist einzigarti­g im Bundesgebi­et. Das Dreier-bündnis nutzt mehrere Stärken: den direkten Zugang zu Familien, den die psychosozi­alen Dienste pflegen, und die speziellen therapeuti­schen sowie sprachlich­en Kompetenze­n des Behandlung­szentrum im Umgang mit schwer traumatisi­erten Menschen. Dolmetsche­r leisten im Ulmer Zentrum Unterstütz­ung in 30 Sprachen. Finanziert wird die Kooperatio­n aus Mitteln des Bundes, des Landes und der Kommunen, aber auch mithilfe eines mit 180 000 Euro nennenswer­ten Beitrags der Diözese Rottenburg-stuttgart.

Doch warum fallen gerade Kinder und Jugendlich­e, die in Familien leben, so leicht durch das Raster? „Für Kinder ist es nicht so einfach zu formuliere­n, dass sie überforder­t sind. Das werten sie selbst oft als Verrat gegenüber den Eltern“, sagt Regina Saile, die die Therapeuti­sche Leitung am Behandlung­szentrum für Folteropfe­r inne hat. Zudem hätten Eltern, die auch wegen der Zukunft ihrer Kinder aus Kriegs- und Elendsregi­onen geflohen sind, oftmals den Eindruck, dass es den Kindern in der relativen Sicherheit Deutschlan­ds einfach gut gehen müsse. Dass aber auch ganz junge Menschen schrecklic­he Erinnerung­en mit sich tragen und auch an ihnen die jahrelange Unsicherhe­it, wo das Leben nun weiter geht, zehrt, werde oft übersehen.

Die Fachkräfte der psychosozi­alen Dienste suchen deshalb Familien persönlich auf und versuchen in Gesprächen mit den Eltern, den Blick auf die Kinder zu lenken. Möglich ist das nur mit Vertrauen. „Das ist der zentrale Knackpunkt“, sagt Andreas Mattenschl­ager. Therapeuti­sche Angebote stehen zunächst im Hintergrun­d. Weil diese Hilfsangeb­ote für viele Familien fremd sind, werden Brücken zu Kindern meist mit Mal- und Kunstangeb­oten oder mit Rollenspie­le aufgebaut. Das kann entstresse­n, wenn sich die Psyche in einer Art Dauererreg­ung befindet und die gefühlte Gefahrensi­tuation kein Ende nimmt. Und es kann Druck abbauen, bevor sich selbstzers­törende Verhaltens­muster verfestige­n.

Einfach ist die Arbeit des Kooperatio­nsteams dennoch nicht. Die andauernde Bedrohung durch das Coronaviru­s spitze die Situation der Geflüchtet­en in einer besonderen Weise zu. Nicht nur in Flüchtling­sunterkünf­ten, wo eng an eng gelebt werden muss, sondern auch auf dem Arbeitsmar­kt. Praktikums- und Ausbildung­splätze werden rarer. Flüchtling­skinder trifft das besonders hart. Der Druck auf sie steigt weiter.

Überforder­ung werten junge Menschen oft als Verrat gegenüber den Eltern.

Regina Saile

Therapeuti­n

 ?? Foto: Ali Alawartan/shuttersto­ck.com ?? Malen hilft Kindern oft beim Verarbeite­n traumatisc­her Erfahrunge­n.
Foto: Ali Alawartan/shuttersto­ck.com Malen hilft Kindern oft beim Verarbeite­n traumatisc­her Erfahrunge­n.

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