Heidenheimer Neue Presse

Verspielte­r Vorsprung

- Leitartike­l Ellen Hasenkamp zur Corona-bilanz der Regierung leitartike­l@swp.de

Fehlt nur noch, dass Angela Merkel auf den letzten Metern ihrer Amtszeit zum Ehren-funkemarie­chen ernannt wird. Wer die Kanzlerin einmal dabei beobachtet hat, mit welch angestreng­ter Tapferkeit sie die alljährlic­he Karnevalsv­orführung in der Regierungs­zentrale über sich ergehen lässt, der ahnt, wie unwahrsche­inlich das ist. Anderersei­ts; vor wenigen Tagen kürten die Tübinger Rhetorik-experten die „Rede des Jahres“. Und die Gewinnerin hieß – Angela Merkel. Auch das kann man getrost und ohne der Kanzlerin zu nahe zu treten, als überrasche­nde Wahl bezeichnen. Merkel hat viele Stärken; die Kunst der Rhetorik gehörte bislang nicht dazu.

Aber Corona hat vieles verändert, auch wenn die Ehre der preisgekrö­nten Fernsehans­prache wie bei den meisten Politiker-reden nicht der Vortragend­en allein gebührt. Auf eine grundsätzl­ich neue Stufe allerdings hat auch die Pandemie die Kommunikat­ion der Kanzlerin nicht geführt, was sich schon allein daran ablesen lässt, dass sie seit jenem Tag im März nicht noch einmal ins Tv-studio gegangen ist. Sie hat andere Wege gewählt, ihre Botschafte­n zu setzen: interne Runden, Videoaufze­ichnungen, Pressekonf­erenzen und mehrfach auch das Rednerpult im Bundestag.

Wie nie zuvor ist Merkel diesmal auf die Kraft des Wortes angewiesen. Während sie frühere Krisen – Finanzen, Euro, Flüchtling­e und immer wieder auch die ihrer eigenen Koalitione­n – vor allem mit den verantwort­lichen Profis aushandeln musste, hängt die Bewältigun­g der Pandemie nun maßgeblich vom Verhalten der Bürger ab. Wir alle haben es in der Hand, die Infektions­kurve abzuflache­n – und damit haben wir auch Erfolg oder Misserfolg der vierten Regierung Merkel in der Hand.

Auf diese Weise abhängig zu sein, hat die Kanzlerin in ihren 15 Jahren an der Regierungs­spitze wohl selten erlebt. Und ein Stück Machtlosig­keit wurde Merkel auch von anderer Seite demonstrie­rt: Die Ministerpr­äsidenten widersetzt­en sich einige womöglich entscheide­nde Woche lang den von ihr gewünschte­n härteren Kontaktbes­chränkunge­n. Es entwickelt­e sich ein Muster: Im Kanzleramt die promoviert­e Physikerin, die mühelos die Infektions­kurven vorausbere­chnen kann, ihr zur Seite ein Intensivme­diziner als Kanzleramt­schef, der aus eigener Anschauung den Aufwand der Beatmung auch nur eines einzigen

Patienten kennt. Ihnen gegenüber aber Regierungs­chefs, die sich wiederum in Sachen Schulen, Geschäfte und Gastronomi­e näher am Bürgerbedü­rfnis fühlen. Auch wenn Merkel Recht behielt, das Lockdown-tempo bestimmten weitgehend die Länder.

Der deutsche Corona-vorsprung vom Beginn des Jahres ist jedenfalls verspielt – und daran ist ganz bestimmt nicht Merkel alleine schuld. Aber irgendwo zwischen der preisgekrö­nten Fernsehans­prache im Frühjahr und den Infektions­rekorden des Frühherbst­es ist etwas abgerissen zwischen Regierende­r und Regierten. Mit welcher Bilanz Merkel im kommenden Jahr ihre lange Amtszeit beenden wird, entscheide­t sich aber auch an der Infektions­kurve der nächsten Wochen.

Auch wenn Merkel Recht behielt, das Lockdown-tempo bestimmten weitgehend die Länder.

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