Zurück im Leben nach dem Covid-koma
Karl Niederberger gehört zu den ersten Covid-19-patienten am Klinikum. 49 Tage war er auf der Intensivstation. Wie geht es ihm heute?
Ein Covid-patient als Mutmacher? Karl Niederberger, so bescheinigen es Pfleger und Ärzte, sei dafür genau der Richtige. Denn trotz schwerem Krankheitsverlauf habe er nie den Mut verloren, habe gekämpft, bei der Behandlung mitgearbeitet und vor allem den Glauben an das Positive nicht verloren.
Selbst heute, ein Dreivierteljahr nach der Infektion, muss Karl Niederberger an seiner Gesundheit arbeiten, macht Therapien und freut sich über jeden noch so kleinen Fortschritt, wenn es ihm auch viel zu langsam geht. 70 Prozent seiner alten Kraft und Gesundheit, so seine Einschätzung, habe er wiedererlangt, Tendenz steigend.
Angst vor der zweiten Welle?
Kommt jetzt, in der zweiten Welle, Angst auf, sich noch einmal anzustecken, doch nicht immun zu sein? „Nein, Angst habe ich keine“, sagt der 73-jährige Heidenheimer, der sich an die Coronaegeln hält, Maske trägt und Abstand wahrt. Angst sei kein guter Berater. Der Vorsitzende des Schwimmvereins Heidenheim 1904 (SV 04), einst erfolgreicher Schwimmer und Wasserballspieler, will wieder Schwimmkurse geben, sobald das pandemiebedingt möglich ist. Das sind schöne Ziele, denn kaum jemand kann sich vorstellen, was Niederberger in diesem Corona-jahr 2020 erlebt hat.
Ein Monat fehlt in seinem Gedächtnis. Das war die Zeit, als er sowie Ärzte und Pfleger auf der Covid-intensivstation des Heidenheimer Klinikums um sein Leben kämpften. Wie ernst die Lage war, weiß der Heidenheimer nur aus Erzählungen. Womöglich ist das gut so. Denn während andere, Angehörige und Freunde, um ihn bangten, er künstlich beatmet wurde, diverse Komplikationen wie eine Lungenembolie hinzukamen, spürte der Heidenheimer nichts. Er war, wie die Mediziner berichten, medikamentös von Angst, Stress und Atemnot abgeschirmt.
Woran er sich erinnert, das sind drei Träume. Im ersten, erzählt Niederberger, befand er sich in einer Art Sommerfrische. „Alles hat geblüht, Kinder waren um mich herum, ich habe mich gut gefühlt.“In der Realität hatte sich Niederbergers Zustand so rapide verschlechtert, dass er Ende März nach drei Tagen auf der Covidnormalstation auf die Intensivstation des Heidenheimer Klinikums verlegt wurde. Die virusbedingte Schädigung der Lunge verhinderte mittlerweile eine ausreichende Sauerstoffaufnahme in das Blut.
Im zweiten Traum wurde Bingo gespielt. Ein Spiel, das er selbst nie gespielt hat. Vielleicht, so seine Vermutung, habe einer der Pfleger einmal „Bingo“gerufen, weil eine Behandlung angeschlagen hat? Im dritten Traum schipperte er auf dem Bauch liegend auf einem Dampfer den Rhein hinab. „Ich konnte aber nicht runter vom Schiff.“Womöglich rührte der Traum daher, dass Niederberger auf den Bauch gedreht worden war, wo er bewegungslos lag und beatmet wurde.
Nach dem Aufwachen
Bewusst aus dem Dämmerzustand aufgewacht ist der 73-jährige Heidenheimer, auch wenn er nicht mehr als fünf Tage im künstlichen Koma lag, erstmals wieder Ende April. „Ich habe nichts gespürt, konnte mich nicht bewegen, nicht sprechen.“Das lag am Luftröhrenschnitt, erst später erhielt er eine Sprechkanüle, über die die Stimme fremd klang. „Ich dachte, das bin nicht ich, da spricht ein Roboter.“
Der erste Wunsch
Sein erster Wunsch sei es gewesen, mit seiner Frau zu telefonieren und sich zu bedanken bei allen, die ihm über den Berg geholfen haben. Die Kanüle wurde später wieder entfernt, heute klingt seine Stimme normal. Auch seinen Geschmack hat er wieder. Gut erinnert er sich, als er zum ersten Mal den Sauerbraten wieder gerochen hat. „Das war ein schönes Gefühl.“
Auch seine Frau hatte sich angesteckt, musste vier Wochen lang in Quarantäne bleiben und durfte ihren Mann nicht besuchen. Wie es um ihn stand, erfuhr sie lediglich durch die täglichen Telefonate mit den Pflegern und Ärzten.
Wie die Krankheit begann
Dass er sich mit dem Coronavirus infiziert haben könnte, daran hatte Niederberger zunächst nicht geglaubt. An die Vor-corona-tage erinnert er sich genau. Als Vorsitzender des SV 04 Heidenheim steckte er mitten in den Vorbereitungen für das internationale Schwimmfest in der Aquarena am 20. März, das abgesagt werden musste. Er sei zu Hause gewesen, habe die schlimmen Bilder aus Italien von den vielen Toten und aus den überfüllten Kliniken gesehen.
Dass er da schon das Virus in sich trug, ahnte er nicht. „Sonntags bekam ich Fieber, immer höher, fast 40 Grad, das ist für mich völlig unnormal.“Drei Tage später ging er zum Hausarzt, am Donnerstag folgte der Test. Am Freitagnachmittag fiel er bewusstlos um und wurde ins Klinikum gebracht.
Was er durchgemacht hat, weiß er von anderen. „Ein Arzt erzählte mir, das sei wie eine Gratwanderung gewesen. Und ab und zu habe ich auf die falsche Seite rübergeschaut.“
Es wurde sehr schnell kritisch
Den Krankheitsverlauf beschreibt Prof. Dr. Alexander Brinkmann, Chefarzt der Klinik für Anästhesie, operative Intensivmedizin und spezielle Schmerztherapie. Der Patient sei relativ schnell intubiert, beatmet und in Bauchlage gedreht worden. „Je höher die benötigte Sauerstoffkonzentration und je intensiver die Beatmung, desto früher geht es in die Bauchlage“, so der Mediziner.
Warum der schwere Verlauf? Niederberger habe nicht nur eine Viruspneumonie gehabt, also eine durch das Virus hervorgerufene Lungenentzündung, sondern daraus resultierend mindestens zwei bakterielle Superinfektionen mit erneuter Verschlechterung der Lungenfunktion. Dazu kamen eine Lungenembolie und ein Nierenversagen, das wenige Tage lang eine Nierenersatztherapie notwendig machte.
Chancen schlechter als 50:50
Ein septischer Schock (Blutvergiftung mit Kreislaufversagen) bewirke schon alleine eine Sterblichkeit zwischen 40 und 60 Prozent. Eine „Covid-erkrankung mit Organdysfunktion von Lunge, Herz, Kreislauf und Niere verschlechtert die Überlebenschancen nochmals dramatisch“, fasst der Spezialist zusammen. Daraus ergaben sich 49 hochaktive Tage.
„Daran kann man ermessen, was Herr Niederberger durchgemacht hat.“Es habe nicht nur eine höchst kritische Phase gegeben. „Die Viren“, so Brinkmann, „haben die unangenehme Eigenschaft, sich mit einer gewissen Vorliebe für die Lunge über das Gefäßsystem in den Körper vorzuarbeiten.“Das führe dazu, dass Blutgerinnsel entstünden und wichtige Regionen nicht mehr gut durchblutet und mit Sauerstoff versorgt würden.
Sicht der Ärzte und Pfleger
Wie erleben die Behandelnden einen so schweren Verlauf ? „Das ist natürlich emotional betrachtet traurig und kräftezehrend, aber das weckt auch all unsere Motivation, alles aus uns und unseren Maschinen herauszuholen“, sagen Brinkmann und Fred Benkißer, stellvertretender Stationsleiter der Pflege. „Das Wundervolle an diesen schönsten Berufen der Welt ist, dass wir uns unseren Optimismus nicht nehmen lassen. Nur wenn man so an die Sache herangeht, kann man erfolgreich sein.“Brinkmanns wichtigste Erkenntnis nach 33 Jahren in der Intensivmedizin: „Je besser es gelingt, die unterschiedlichen interdisziplinären und interprofessionellen Kompetenzen im Krankenhaus – speziell auf der Intensivstation – zu nutzen, also Pflege, Physio- und Ergotherapie, Laboranalytik sowie die unterschiedlichen medizinischen Disziplinen, desto besser gelingt der Dienst am kranken Menschen.“Genau das zeichne die Heidenheimer Intensivmedizin überregional aus.
Ein Lob den Pflegern
Dass aber ein Patient wie Karl Niederberger die Station wieder verlassen könne, sei zuallererst den Menschen zu verdanken, die direkt am Bett arbeiten, sagt Brinkmann: „Gute Ärzte sind hilfreich und wichtig, aber ohne engagierte Pflege, Physio- und Ergotherapie wird kein kritisch kranker Patient eine Intensivstation in Deutschland verlassen können.“
Dabei verlange die Betreuung von Covid-patienten den Fachkräften viel ab. Durch die Schutzausrüstung strenge die Arbeit körperlich mehr an, beschreibt Fred Benkißer die Situation des Pflegepersonals. Wenn möglich, werde deshalb durchgewechselt, damit sich das Personal erholen könne. Dazu komme die Angst, sich selbst und die Angehörigen anzustecken.
Karl Niederberger hat seinen Optimismus behalten – trotz seiner Geschichte. Zwölf Wochen im Krankenhaus, danach vier Wochen in Reha. Erst dann, vier Monate nach Krankheitsbeginn, durfte Niederberger wieder nach Hause. Jede Bewegung musste er wieder lernen: aufrecht sitzen, richtig atmen, trinken, essen, laufen, die Arme bewegen, so selbstverständliche Dinge wie den Klogang. „Es war alles so anstrengend, das hätte ich nie geglaubt.“Bis heute strengen ihn Bewegungen an, er sei schnell außer Atem.
Dennoch lässt er sich seine Spaziergänge nicht nehmen, denn diese bringen ihn, wie viele andere Übungen, immer einen Schritt weiter dorthin, wo er sich hinwünscht: zur Gesundheit.
Das Wundervolle an diesen schönsten Berufen der Welt ist, dass wir uns unseren Optimismus nicht nehmen lassen.
Prof. Dr. Alexander Brinkmann,