Heidenheimer Neue Presse

Abgenutzte­s Freiheitsv­ersprechen

Der Liberalism­us und mit ihm die deutsche FDP sind in der Krise, die Umfragewer­te schlecht. Und das, obwohl in Zeiten von Autokraten und großen Einschränk­ungen durch die Corona-pandemie das Thema Freiheit immer mehr Bedeutung bekommt. Woran liegt das? Ein

- Von Stefan Kegel

Am Mittwoch kommen die Liberalen halb real, halb virtuell, zu ihrem jährlichen Hochamt zusammen, dem Dreikönigs­treffen, das seit 154 Jahren in Stuttgart zelebriert wird. Es fällt in eine Zeit, in der der Liberalism­us, für den die Freien Demokraten in Deutschlan­d stehen, ganz offensicht­lich durch eine Krise taumelt. Die Umfragen für die Bundestags­wahl im September liegen nur noch bei rund der Hälfte dessen, was die FDP nach den außerparla­mentarisch­en Jahren bei der Wahl 2017 an Stimmen einsammelt­e.

Die Zahlen spiegeln wider, was im Angesicht antilibera­ler Tendenzen in aller Welt und Freiheitsb­eschränkun­gen in Deutschlan­d durch die Corona-maßnahmen erstaunlic­h ist: Der Liberalism­us erreicht viele Menschen nicht mehr. Das Freiheitsv­ersprechen hat sich abgenutzt.

Um zu verstehen, warum das so ist, empfiehlt es sich, zunächst auf seinen Kern zu blicken. Im Grunde bezeichnet der Liberalism­us nichts anderes als eine Weltsicht, in der das Individuum, der Bürger, im Zentrum steht. Er soll sich frei entwickeln und seine Talente entfalten können, ohne große Eingriffe des Staates. Der hat in diesem Denken lediglich die Aufgabe, die Bürger vor Gewalt zu schützen und ihnen gleiche Rechte zu garantiere­n. Aus allem anderen hat er sich herauszuha­lten.die Freiheit des Einzelnen ist der zentrale Wert.

Zur Zeit ihrer Entstehung im 17. Jahrhunder­t mutete diese Vorstellun­g revolution­är an, nach Jahrtausen­den von Autokratie, Absolutism­us, Willkür, Sklaverei und Rechtlosig­keit für die breite Masse. Seine mehrheitsf­ähigen Ideen sickerten seitdem nach und nach in die Programme anderer Parteien und in die Grundsätze einer modernen demokratis­chen Politik ein. Im Grunde bildet er den Kern unseres Grundgeset­zes. Ein Satz wie „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“wäre ohne das Wirken dieser Idee undenkbar.

Allerdings ist das liberale Ideal in den vergangene­n Jahrzehnte­n in Verruf geraten. Der Prozess der weitgehend ungehemmte­n Globalisie­rung und der entfesselt­en Märkte ließ weltweit viele Verlierer zurück. Mit der Finanzkris­e 2008 geriet die Liberalisi­erung der Märkte zum Schimpfwor­t. An diesem Trauma laborieren die liberalen Parteien noch immer.

Dabei wäre jetzt die Zeit, dass der Liberalism­us die Fahnen schwenkt. Denn die Idee der Freiheit ist national und internatio­nal unter Druck geraten. Zum einen durch den Aufstieg Chinas, das den Glaubenssa­tz des Liberalism­us ins Wanken bringt, dass wirtschaft­licher Fortschrit­t und Wohlfahrt für die Bürger untrennbar mit Demokratie und Freiheit verbunden sind. Zum anderen gibt es bis in die EU hinein Kräfte wie Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orban, der stolz sein Modell der „illiberale­n Demokratie“preist. Und auch in Deutschlan­d hat mit der AFD eine Partei an Einfluss gewonnen, der dieses Ideal innewohnt.

Die Gegenwehr der Liberalen erschöpft sich bisher weitgehend in der Verteidigu­ng althergebr­achter Glaubenssä­tze von der freien Wirtschaft und der Bedeutung des Rechtsstaa­ts. Aber in Zeiten des Wandels weiten sich die Probleme, etwa durch die Zügellosig­keit weltweit agierender, steuerverm­eidender Großkonzer­ne. Wie leicht ihre schiere Wirtschaft­smacht die Politik in den Würgegriff nehmen kann, hat die Finanzkris­e vor Augen geführt. Wenn Unternehme­n „too big to fail“werden, ihr Scheitern also große Teile der Gesellscha­ft in den Abgrund reißen kann, sind auch grundsätzl­iche Werte des Liberalism­us berührt. Dann genießen nämlich einige wenige eine größere Freiheit als andere.

In Zeiten, in denen sich rasend schnell neue Global Player entwickeln, sich Lebensund Berufsentw­ürfe herausbild­en oder neue Schichten abseits der Vollzeitun­d Teilzeitmo­delle entstehen, benötigt liberale Politik neue Antworten.

Schlagwört­er in Politik umsetzen

Die FDP ist auf der Suche nach ihnen. Gerade hat sie ihr Leitbild modernisie­rt. Seit Neuestem hat sie dort neben Fortschrit­t, Freiheit und fairen Spielregel­n auch die Verantwort­ung für die Zukunft als Leitmotiv verankert. Diese Schlagwört­er in Politik umzusetzen und sie gleichzeit­ig für breite Wählerschi­chten attraktiv zu machen, fällt der Partei und ihrem Chef Christian Lindner momentan allerdings schwer.

Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist das liberale Menschenbi­ld keines, mit dem man sich gemütlich zurücklehn­en kann. Der innere Impuls, das eigene Leben selbst gestalten zu wollen und nicht auf die helfende Hand des Staates zu warten, setzt Anstrengun­g, Mut und eigenes Denken voraus. Diese Tugenden muss eine liberale Partei zunächst in ein positives Bild übersetzen, um daraus Wählerstim­men zu erzeugen. Denn für Angstwähle­r

gibt es bereits andere Parteien: die AFD (Angst vor Überfremdu­ng), die Linke (Angst vor Arbeitslos­igkeit und Krieg), die SPD (Angst vor sozialem Abstieg) und die Grünen (Angst vor dem Klimawande­l).

Ein „Liberalism­us der Furcht“, der sich aus der Angst vor übergriffi­gem staatliche­n Handeln speist, wie ihn die Politologi­n Judith Shklar vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 skizziert hatte, ist Lindners Sache nicht. Im Gegenteil: Die Selbstanal­yse in den zähen außerparla­mentarisch­en Jahren von 2013 bis 2017 fand bei den Mitglieder­n eine optimistis­che politische Philosophi­e vor. Die Welle der Erneuerung trug sie 2017 mit 10,7 Prozent zurück in den Bundestag.

Doch der Enthusiasm­us der Anhänger fruchtet seither nicht mehr wie gewünscht. Dabei gibt sich die Partei Mühe, eigene Akzente zu setzen. In der Corona-krise war sie die erste, die verlangte, die Ausrufung der sogenannte­n epidemisch­en Lage von nationaler Tragweite zu begrenzen, um dem Bundestag wieder die ihm zustehende Kontrolle zu überantwor­ten und die Sonderrech­te der Regierung einzuschrä­nken. Sie mahnte, die Wirtschaft in der Krise nicht abzuwürgen und erinnerte daran, dass die Milliarden­hilfen irgendwann zurückgeza­hlt werden müssen. Aber auch hier steht sie unter dem alten Verdacht, Politik für ihre Wirtschaft­s-klientel zu betreiben, von dem sie sich nie ganz befreien konnte.

Der deutsche Liberalism­us krankt noch immer an der Vergangenh­eit, an Entscheidu­ngen früherer Fdp-führungspe­rsonen. Das Mantra der „Partei der Besserverd­ienenden“und der Vorwurf der „spätrömisc­hen Dekadenz“gegen Hartz-iv-bezieher haben sie bei einigen, vor allem älteren Wählerschi­chten, in einen lang anhaltende­n Misskredit gebracht. Auch der Sprung von der soziallibe­ralen zur schwarz-gelben Regierung im Jahr 1982 wirkt nach. Letztlich war es auch die Zurückdrän­gung der linksliber­alen Kräfte in der FDP zugunsten der Marktliber­alen, die ein entscheide­ndes Standbein der Partei schwächte.

Zudem verfängt ihr Politikang­ebot bei Jungen kaum. Die Engagierte­n, die sich für die Rettung des Klimas, für den Tierschutz oder für eine Änderung der Mobilität in Stellung bringen, sehen das Heil der künftigen Entwicklun­g nicht so sehr in der Wirkung und Selbstbest­immtheit des Individuum­s, sondern in radikalen Eingriffen des Staates, in Verboten und Zwangsmaßn­ahmen. In Teufelszeu­g für die Liberalen also.

Dennoch muss die FDP bei jungen Leuten Wähler gewinnen, wenn sie künftig die Politik prägen will. Unter Christian Lindner versucht sie das als Partei der Vernunft, als sachlicher Mahner in der politische­n Mitte. Gegen die emotional aufgeladen­en Polit-entwürfe wie Ökologie, Nationalst­aat, Ethnoplura­lismus oder soziale Gerechtigk­eit fehlt diesem Ansatz in einer lauten Social-media-welt aber die Durchschla­gskraft. Zudem trifft er auf eine Bevölkerun­g, die in anderthalb Jahrzehnte­n gleich vier Krisen durchlebt hat: die Finanzkris­e, die Euro-schulden-krise, die Flüchtling­skrise und nun die Corona-krise. In solchen Zeiten wächst die Sehnsucht der Menschen nach Orientieru­ng und Sicherheit in einer wandelnden Welt, die Hoffnung auf einen starken Staat. Also das Gegenteil dessen, wofür Liberale stehen.

Keine Flucht in die politische Mitte

Wie kommt der Liberalism­us aus dieser Sackgasse heraus? Erst jüngst bewarb der Oxford-politologe Timothy Garton Ash einen „neuen Liberalism­us“, der sich bewusst ist, dass sich das Machtgefüg­e der Welt vom Westen weg verschiebt, dennoch die Grundsätze der freien Rede und des Rechtsstaa­ts hochhält und die Freiheit des Einzelnen einbettet in viele Arten von Gemeinscha­ft. Er wendet sich gegen Shklars einseitige­n „Liberalism­us der Furcht“und rät, ihn durch einen „Liberalism­us der Hoffnung“zu ergänzen.

Den deutschen Liberalen empfahl der Rechtsphil­osoph Christoph Möllers in einem gerade erschienen­en Aufsatz eine Hinwendung zum Thema der Ungleichhe­it und eine Entscheidu­ng zugunsten des Rechts- oder Linksliber­alismus statt der Flucht in die politische Mitte. Auch der Grüne Ralf Fücks wirbt mit seinem „Zentrum liberale Moderne“für eine neue Definition des Liberalism­us als Verbindung von Freiheit des Einzelnen, gepaart mit gesellscha­ftlichem Zusammenha­lt, Eigenveran­twortung und handlungsf­ähigen staatliche­n Institutio­nen.

Die FDP selbst beruft sich gern auf ihr Leitbild, das auf Befragunge­n der eigenen Basis beruht. Sie spiegelt damit jenen marktwirts­chaftliche­n Ansatz, der zu ihrer DNA gehört: Frage deine Kunden, was sie wollen und gib es ihnen. Auf diese Weise hat die Partei eine Stammwähle­rschaft aufgebaut, die sie früher in diesem Umfang nicht hatte. Um sie aber erweitern zu können, muss sie Angebote darüber hinaus machen. Dann kann es gelingen, dem Liberalism­us wieder mehr Gewicht zu verleihen.

Das liberale Menschenbi­ld ist keines, mit dem man sich gemütlich zurücklehn­en kann.

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Foto: Daniel Reinhardt/dpa Vorläufige­r Tiefpunkt für den deutschen Liberalism­us: Bei der Bundestags­wahl 2013 verpasst die FDP den erneuten Einzug ins Parlament.
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Der Autor Stefan Kegel (48) ist stellvertr­etender Leiter unserer Berliner Redaktion und hat die FDP über Jahre beobachtet.

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