Abgenutztes Freiheitsversprechen
Der Liberalismus und mit ihm die deutsche FDP sind in der Krise, die Umfragewerte schlecht. Und das, obwohl in Zeiten von Autokraten und großen Einschränkungen durch die Corona-pandemie das Thema Freiheit immer mehr Bedeutung bekommt. Woran liegt das? Ein
Am Mittwoch kommen die Liberalen halb real, halb virtuell, zu ihrem jährlichen Hochamt zusammen, dem Dreikönigstreffen, das seit 154 Jahren in Stuttgart zelebriert wird. Es fällt in eine Zeit, in der der Liberalismus, für den die Freien Demokraten in Deutschland stehen, ganz offensichtlich durch eine Krise taumelt. Die Umfragen für die Bundestagswahl im September liegen nur noch bei rund der Hälfte dessen, was die FDP nach den außerparlamentarischen Jahren bei der Wahl 2017 an Stimmen einsammelte.
Die Zahlen spiegeln wider, was im Angesicht antiliberaler Tendenzen in aller Welt und Freiheitsbeschränkungen in Deutschland durch die Corona-maßnahmen erstaunlich ist: Der Liberalismus erreicht viele Menschen nicht mehr. Das Freiheitsversprechen hat sich abgenutzt.
Um zu verstehen, warum das so ist, empfiehlt es sich, zunächst auf seinen Kern zu blicken. Im Grunde bezeichnet der Liberalismus nichts anderes als eine Weltsicht, in der das Individuum, der Bürger, im Zentrum steht. Er soll sich frei entwickeln und seine Talente entfalten können, ohne große Eingriffe des Staates. Der hat in diesem Denken lediglich die Aufgabe, die Bürger vor Gewalt zu schützen und ihnen gleiche Rechte zu garantieren. Aus allem anderen hat er sich herauszuhalten.die Freiheit des Einzelnen ist der zentrale Wert.
Zur Zeit ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert mutete diese Vorstellung revolutionär an, nach Jahrtausenden von Autokratie, Absolutismus, Willkür, Sklaverei und Rechtlosigkeit für die breite Masse. Seine mehrheitsfähigen Ideen sickerten seitdem nach und nach in die Programme anderer Parteien und in die Grundsätze einer modernen demokratischen Politik ein. Im Grunde bildet er den Kern unseres Grundgesetzes. Ein Satz wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“wäre ohne das Wirken dieser Idee undenkbar.
Allerdings ist das liberale Ideal in den vergangenen Jahrzehnten in Verruf geraten. Der Prozess der weitgehend ungehemmten Globalisierung und der entfesselten Märkte ließ weltweit viele Verlierer zurück. Mit der Finanzkrise 2008 geriet die Liberalisierung der Märkte zum Schimpfwort. An diesem Trauma laborieren die liberalen Parteien noch immer.
Dabei wäre jetzt die Zeit, dass der Liberalismus die Fahnen schwenkt. Denn die Idee der Freiheit ist national und international unter Druck geraten. Zum einen durch den Aufstieg Chinas, das den Glaubenssatz des Liberalismus ins Wanken bringt, dass wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlfahrt für die Bürger untrennbar mit Demokratie und Freiheit verbunden sind. Zum anderen gibt es bis in die EU hinein Kräfte wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der stolz sein Modell der „illiberalen Demokratie“preist. Und auch in Deutschland hat mit der AFD eine Partei an Einfluss gewonnen, der dieses Ideal innewohnt.
Die Gegenwehr der Liberalen erschöpft sich bisher weitgehend in der Verteidigung althergebrachter Glaubenssätze von der freien Wirtschaft und der Bedeutung des Rechtsstaats. Aber in Zeiten des Wandels weiten sich die Probleme, etwa durch die Zügellosigkeit weltweit agierender, steuervermeidender Großkonzerne. Wie leicht ihre schiere Wirtschaftsmacht die Politik in den Würgegriff nehmen kann, hat die Finanzkrise vor Augen geführt. Wenn Unternehmen „too big to fail“werden, ihr Scheitern also große Teile der Gesellschaft in den Abgrund reißen kann, sind auch grundsätzliche Werte des Liberalismus berührt. Dann genießen nämlich einige wenige eine größere Freiheit als andere.
In Zeiten, in denen sich rasend schnell neue Global Player entwickeln, sich Lebensund Berufsentwürfe herausbilden oder neue Schichten abseits der Vollzeitund Teilzeitmodelle entstehen, benötigt liberale Politik neue Antworten.
Schlagwörter in Politik umsetzen
Die FDP ist auf der Suche nach ihnen. Gerade hat sie ihr Leitbild modernisiert. Seit Neuestem hat sie dort neben Fortschritt, Freiheit und fairen Spielregeln auch die Verantwortung für die Zukunft als Leitmotiv verankert. Diese Schlagwörter in Politik umzusetzen und sie gleichzeitig für breite Wählerschichten attraktiv zu machen, fällt der Partei und ihrem Chef Christian Lindner momentan allerdings schwer.
Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist das liberale Menschenbild keines, mit dem man sich gemütlich zurücklehnen kann. Der innere Impuls, das eigene Leben selbst gestalten zu wollen und nicht auf die helfende Hand des Staates zu warten, setzt Anstrengung, Mut und eigenes Denken voraus. Diese Tugenden muss eine liberale Partei zunächst in ein positives Bild übersetzen, um daraus Wählerstimmen zu erzeugen. Denn für Angstwähler
gibt es bereits andere Parteien: die AFD (Angst vor Überfremdung), die Linke (Angst vor Arbeitslosigkeit und Krieg), die SPD (Angst vor sozialem Abstieg) und die Grünen (Angst vor dem Klimawandel).
Ein „Liberalismus der Furcht“, der sich aus der Angst vor übergriffigem staatlichen Handeln speist, wie ihn die Politologin Judith Shklar vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 skizziert hatte, ist Lindners Sache nicht. Im Gegenteil: Die Selbstanalyse in den zähen außerparlamentarischen Jahren von 2013 bis 2017 fand bei den Mitgliedern eine optimistische politische Philosophie vor. Die Welle der Erneuerung trug sie 2017 mit 10,7 Prozent zurück in den Bundestag.
Doch der Enthusiasmus der Anhänger fruchtet seither nicht mehr wie gewünscht. Dabei gibt sich die Partei Mühe, eigene Akzente zu setzen. In der Corona-krise war sie die erste, die verlangte, die Ausrufung der sogenannten epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu begrenzen, um dem Bundestag wieder die ihm zustehende Kontrolle zu überantworten und die Sonderrechte der Regierung einzuschränken. Sie mahnte, die Wirtschaft in der Krise nicht abzuwürgen und erinnerte daran, dass die Milliardenhilfen irgendwann zurückgezahlt werden müssen. Aber auch hier steht sie unter dem alten Verdacht, Politik für ihre Wirtschafts-klientel zu betreiben, von dem sie sich nie ganz befreien konnte.
Der deutsche Liberalismus krankt noch immer an der Vergangenheit, an Entscheidungen früherer Fdp-führungspersonen. Das Mantra der „Partei der Besserverdienenden“und der Vorwurf der „spätrömischen Dekadenz“gegen Hartz-iv-bezieher haben sie bei einigen, vor allem älteren Wählerschichten, in einen lang anhaltenden Misskredit gebracht. Auch der Sprung von der sozialliberalen zur schwarz-gelben Regierung im Jahr 1982 wirkt nach. Letztlich war es auch die Zurückdrängung der linksliberalen Kräfte in der FDP zugunsten der Marktliberalen, die ein entscheidendes Standbein der Partei schwächte.
Zudem verfängt ihr Politikangebot bei Jungen kaum. Die Engagierten, die sich für die Rettung des Klimas, für den Tierschutz oder für eine Änderung der Mobilität in Stellung bringen, sehen das Heil der künftigen Entwicklung nicht so sehr in der Wirkung und Selbstbestimmtheit des Individuums, sondern in radikalen Eingriffen des Staates, in Verboten und Zwangsmaßnahmen. In Teufelszeug für die Liberalen also.
Dennoch muss die FDP bei jungen Leuten Wähler gewinnen, wenn sie künftig die Politik prägen will. Unter Christian Lindner versucht sie das als Partei der Vernunft, als sachlicher Mahner in der politischen Mitte. Gegen die emotional aufgeladenen Polit-entwürfe wie Ökologie, Nationalstaat, Ethnopluralismus oder soziale Gerechtigkeit fehlt diesem Ansatz in einer lauten Social-media-welt aber die Durchschlagskraft. Zudem trifft er auf eine Bevölkerung, die in anderthalb Jahrzehnten gleich vier Krisen durchlebt hat: die Finanzkrise, die Euro-schulden-krise, die Flüchtlingskrise und nun die Corona-krise. In solchen Zeiten wächst die Sehnsucht der Menschen nach Orientierung und Sicherheit in einer wandelnden Welt, die Hoffnung auf einen starken Staat. Also das Gegenteil dessen, wofür Liberale stehen.
Keine Flucht in die politische Mitte
Wie kommt der Liberalismus aus dieser Sackgasse heraus? Erst jüngst bewarb der Oxford-politologe Timothy Garton Ash einen „neuen Liberalismus“, der sich bewusst ist, dass sich das Machtgefüge der Welt vom Westen weg verschiebt, dennoch die Grundsätze der freien Rede und des Rechtsstaats hochhält und die Freiheit des Einzelnen einbettet in viele Arten von Gemeinschaft. Er wendet sich gegen Shklars einseitigen „Liberalismus der Furcht“und rät, ihn durch einen „Liberalismus der Hoffnung“zu ergänzen.
Den deutschen Liberalen empfahl der Rechtsphilosoph Christoph Möllers in einem gerade erschienenen Aufsatz eine Hinwendung zum Thema der Ungleichheit und eine Entscheidung zugunsten des Rechts- oder Linksliberalismus statt der Flucht in die politische Mitte. Auch der Grüne Ralf Fücks wirbt mit seinem „Zentrum liberale Moderne“für eine neue Definition des Liberalismus als Verbindung von Freiheit des Einzelnen, gepaart mit gesellschaftlichem Zusammenhalt, Eigenverantwortung und handlungsfähigen staatlichen Institutionen.
Die FDP selbst beruft sich gern auf ihr Leitbild, das auf Befragungen der eigenen Basis beruht. Sie spiegelt damit jenen marktwirtschaftlichen Ansatz, der zu ihrer DNA gehört: Frage deine Kunden, was sie wollen und gib es ihnen. Auf diese Weise hat die Partei eine Stammwählerschaft aufgebaut, die sie früher in diesem Umfang nicht hatte. Um sie aber erweitern zu können, muss sie Angebote darüber hinaus machen. Dann kann es gelingen, dem Liberalismus wieder mehr Gewicht zu verleihen.
Das liberale Menschenbild ist keines, mit dem man sich gemütlich zurücklehnen kann.