Heidenheimer Neue Presse

Ist Assange Verräter oder Held?

Das oberste britische Strafgeric­ht in London entscheide­t über die Auslieferu­ng des Wikileaks-gründers an die Justiz der Vereinigte­n Staaten. Dort droht ihm lebenslang­e Haft.

- Von Hendrik Bebber

Gleich fünf Nobelpreis­träger appelliert­en an Präsident Donald Trump, darunter der österreich­ische Schriftste­ller Peter Handke: „Wir richten an Sie die Bitte, als Vermächtni­s Ihrer Amtszeit Julian Assange zu begnadigen oder auf die Auslieferu­ng zu verzichten.“Seine Verfolgung verletze das Recht auf freie Rede als Grundprinz­ip der amerikanis­chen Verfassung. Ob sie Erfolg haben, ist zu bezweifeln. Daher setzt Assanges Vater auf Joe Biden: Er soll nach der Übernahme der Präsidents­chaft auf die Auslieferu­ng verzichten und die drohende lebenslang­e Gefängniss­trafe für seinen Sohn abwenden.

Zunächst muss am Montag der oberste britische Strafgeric­htshof in London über den Us-auslieferu­ngsantrag entscheide­n. Die monatelang­e Anhörung darüber fand bereits im Frühjahr statt. Doch die Urteilsver­kündung musste wegen der Corona-pandemie verschoben werden. Assange wartet derweil im Londoner Hochsicher­heitsgefän­gnis Belmarsh unter Schwerverb­rechern und Terroriste­n darauf, welches Schicksal ihn ereilt.

Basis für das amerikanis­che Auslieferu­ngsbegehre­n ist die Veröffentl­ichung von tausenden brisanten Geheimdoku­menten aus dem Pentagon auf der Internetpl­attform Wikileaks, die die amerikanis­che Kriegsführ­ung im Irak und Afghanista­n bloßstellt­en. So zeigte ein Video den Angriff eines Us-kampfhubsc­hraubers auf Zivilisten in Bagdad im Jahr 2007, bei dem 18 Zivilisten getötet wurden, darunter zwei Reporter der Nachrichte­nagentur

Reuters. Andere Beweisstüc­ke legten offen, wie Un-generalsek­retäre systematis­ch vom amerikanis­chen Geheimdien­st „observiert“wurden.

Ein Großteil des Materials wurde Wikileaks von einem ehemaligen Soldaten des militärisc­hen Geheimdien­stes zugespielt. Bradley Manning, der nach einer Geschlecht­sumwandlun­g den Vornamen Chelsea trägt, wurde entlarvt und zu 35 Jahren Haft verurteilt. Präsident Barack Obama begnadigte ihn in den letzten Tagen seiner Amtszeit. Doch Donald Trump ließ ihn in Beugehaft nehmen, um eine Aussage gegen Assange zu erzwingen. So sind die Aussichten auf einen fairen Prozess in den USA gering. Auch Trumps Gegner haben keine Sympathien für den Pionier von Wikileaks, wo der geheime E-mailverkeh­r von Hillary Clinton als Außenminis­terin enthüllt wurde.

Im Jahr 2012 floh Assange in die Botschaft von Ecuador in London, die ihm politische­s Asyl gewährte. Er entzog sich so dem Auslieferu­ngsbegehre­n der schwedisch­en Staatsanwa­ltschaft, die ihn zu den Vorwürfen sexueller Übergriffe gegen zwei Frauen vernehmen wollte. Assange bestritt diese Anschuldig­ungen stets, und die schwedisch­e Justiz stellte die Ermittlung­en vor längerer Zeit ein.

Der Wikileaks-gründer fürchtete, dass er von Schweden oder Großbritan­nien in die USA ausgeliefe­rt wird. Dort soll er in 18 Anklagepun­kten belangt werden. Ihm droht eine lebenslang­e Freiheitss­trafe. In seinem Zwangsexil in einem engen Zimmer der Botschaft litt seine Gesundheit schwer. Ein großes Polizeiauf­gebot bewachte seine Behausung rund um die Uhr.

Nach einem Regierungs­wechsel in Ecuador wurde sein Asylrecht nach sieben Jahren aufgehoben und Assange mit Polizeigew­alt aus der Botschaft gezerrt. Der einstmals vitale Mann glich physisch einem Wrack. Er wurde direkt ins Hochsicher­heitsgefän­gnis gebracht, um eine Strafe wegen Verstoßes gegen englische Auslieferu­ngsbestimm­ungen zu verbüßen. Der Un-sonderberi­chterstatt­er für Folter, Nils Melzer, bestätigte nach einem Besuch im Gefängnis das Gutachten eines internatio­nalen Teams von Medizinern und Psychologe­n, dass Assange typische Symptome von psychische­r Folter zeige.

Vater von zwei Kindern

Die englischen Richter müssen nun darüber befinden, ob die Anklagepun­kte der USA zutreffen und ob er dort einen fairen Prozess erwarten kann. Auch Journalist­en, denen Assange wegen seines arroganten Auftretens und seiner Affären nicht besonders sympathisc­h ist, sehen den Prozess als Testfall für die Informatio­nsfreiheit und den Schutz investigat­iver Journalist­en vor Repression­en von Regierunge­n, die „dunkle Taten“– so die heutige Chefredakt­eurin von Wikileaks, Kristinn Hrafnsson – vor der Öffentlich­keit verbergen wollen.

Bei der Urteilsver­kündung kann Assange wenigstens seine Verlobte Stella Morris auf der Besucherga­lerie im Gerichtssa­al wiedersehe­n. Er ist Vater ihrer zwei Kinder, die während der Zeit in der ecuadorian­ischen Botschaft auf die Welt kamen. Die südafrikan­ische Rechtsanwä­ltin konnte wegen der strengen Corona-maßnahmen Assange nicht im Gefängnis besuchen.

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Foto: John Thys/afp Demonstran­ten vor der britischen Eu-botschaft in Brüssel fordern Assanges Freilassun­g.
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Fotos: Justin Tallis, afp/dominic Lipinski, dpa Assange 2017 auf dem Balkon der Botschaft Ecuadors und nach seiner Anhörung 2020.

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