Ist Assange Verräter oder Held?
Das oberste britische Strafgericht in London entscheidet über die Auslieferung des Wikileaks-gründers an die Justiz der Vereinigten Staaten. Dort droht ihm lebenslange Haft.
Gleich fünf Nobelpreisträger appellierten an Präsident Donald Trump, darunter der österreichische Schriftsteller Peter Handke: „Wir richten an Sie die Bitte, als Vermächtnis Ihrer Amtszeit Julian Assange zu begnadigen oder auf die Auslieferung zu verzichten.“Seine Verfolgung verletze das Recht auf freie Rede als Grundprinzip der amerikanischen Verfassung. Ob sie Erfolg haben, ist zu bezweifeln. Daher setzt Assanges Vater auf Joe Biden: Er soll nach der Übernahme der Präsidentschaft auf die Auslieferung verzichten und die drohende lebenslange Gefängnisstrafe für seinen Sohn abwenden.
Zunächst muss am Montag der oberste britische Strafgerichtshof in London über den Us-auslieferungsantrag entscheiden. Die monatelange Anhörung darüber fand bereits im Frühjahr statt. Doch die Urteilsverkündung musste wegen der Corona-pandemie verschoben werden. Assange wartet derweil im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh unter Schwerverbrechern und Terroristen darauf, welches Schicksal ihn ereilt.
Basis für das amerikanische Auslieferungsbegehren ist die Veröffentlichung von tausenden brisanten Geheimdokumenten aus dem Pentagon auf der Internetplattform Wikileaks, die die amerikanische Kriegsführung im Irak und Afghanistan bloßstellten. So zeigte ein Video den Angriff eines Us-kampfhubschraubers auf Zivilisten in Bagdad im Jahr 2007, bei dem 18 Zivilisten getötet wurden, darunter zwei Reporter der Nachrichtenagentur
Reuters. Andere Beweisstücke legten offen, wie Un-generalsekretäre systematisch vom amerikanischen Geheimdienst „observiert“wurden.
Ein Großteil des Materials wurde Wikileaks von einem ehemaligen Soldaten des militärischen Geheimdienstes zugespielt. Bradley Manning, der nach einer Geschlechtsumwandlung den Vornamen Chelsea trägt, wurde entlarvt und zu 35 Jahren Haft verurteilt. Präsident Barack Obama begnadigte ihn in den letzten Tagen seiner Amtszeit. Doch Donald Trump ließ ihn in Beugehaft nehmen, um eine Aussage gegen Assange zu erzwingen. So sind die Aussichten auf einen fairen Prozess in den USA gering. Auch Trumps Gegner haben keine Sympathien für den Pionier von Wikileaks, wo der geheime E-mailverkehr von Hillary Clinton als Außenministerin enthüllt wurde.
Im Jahr 2012 floh Assange in die Botschaft von Ecuador in London, die ihm politisches Asyl gewährte. Er entzog sich so dem Auslieferungsbegehren der schwedischen Staatsanwaltschaft, die ihn zu den Vorwürfen sexueller Übergriffe gegen zwei Frauen vernehmen wollte. Assange bestritt diese Anschuldigungen stets, und die schwedische Justiz stellte die Ermittlungen vor längerer Zeit ein.
Der Wikileaks-gründer fürchtete, dass er von Schweden oder Großbritannien in die USA ausgeliefert wird. Dort soll er in 18 Anklagepunkten belangt werden. Ihm droht eine lebenslange Freiheitsstrafe. In seinem Zwangsexil in einem engen Zimmer der Botschaft litt seine Gesundheit schwer. Ein großes Polizeiaufgebot bewachte seine Behausung rund um die Uhr.
Nach einem Regierungswechsel in Ecuador wurde sein Asylrecht nach sieben Jahren aufgehoben und Assange mit Polizeigewalt aus der Botschaft gezerrt. Der einstmals vitale Mann glich physisch einem Wrack. Er wurde direkt ins Hochsicherheitsgefängnis gebracht, um eine Strafe wegen Verstoßes gegen englische Auslieferungsbestimmungen zu verbüßen. Der Un-sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, bestätigte nach einem Besuch im Gefängnis das Gutachten eines internationalen Teams von Medizinern und Psychologen, dass Assange typische Symptome von psychischer Folter zeige.
Vater von zwei Kindern
Die englischen Richter müssen nun darüber befinden, ob die Anklagepunkte der USA zutreffen und ob er dort einen fairen Prozess erwarten kann. Auch Journalisten, denen Assange wegen seines arroganten Auftretens und seiner Affären nicht besonders sympathisch ist, sehen den Prozess als Testfall für die Informationsfreiheit und den Schutz investigativer Journalisten vor Repressionen von Regierungen, die „dunkle Taten“– so die heutige Chefredakteurin von Wikileaks, Kristinn Hrafnsson – vor der Öffentlichkeit verbergen wollen.
Bei der Urteilsverkündung kann Assange wenigstens seine Verlobte Stella Morris auf der Besuchergalerie im Gerichtssaal wiedersehen. Er ist Vater ihrer zwei Kinder, die während der Zeit in der ecuadorianischen Botschaft auf die Welt kamen. Die südafrikanische Rechtsanwältin konnte wegen der strengen Corona-maßnahmen Assange nicht im Gefängnis besuchen.