Heidenheimer Neue Presse

Schweizeri­sches Welttheate­r

Mehr als nur Schullektü­re: „Der Besuch der alten Dame“und „Der Richter und sein Henker“– vor 100 Jahren wurde Friedrich Dürrenmatt geboren.

- Von Jürgen Kanold

Nach einem Alibi fragt der ermittelnd­e Kommissär Bärlach nicht. „Sie trauen mir den Mord nicht zu?“, stöhnt ein Schriftste­ller in dem Roman „Der Richter und sein Henker“. „Da haben wir es wieder, die Schriftste­ller werden in der Schweiz aufs traurigste unterschät­zt!“

Das traf im Falle von Friedrich Dürrenmatt später nicht mehr zu, auch weil dieser humorgetri­ebene Provokateu­r, dieser „Prediger mit Dynamit in den Taschen“(Marcel Reich-ranicki) seine neutrale, in sich ruhende Schweiz öffentlich­keitswirks­am als „Gefängnis“bezeichnet­e. Aber zunächst war der vor 100 Jahren, am 5. Januar 1921, im Emmental geborene Pfarrersso­hn nur in Theaterkre­isen als hoffnungsv­oller Dramatiker bekannt. Er steckte mit seiner jungen Familie in Geldnot. So startete die Zeitschrif­t „Schweizeri­scher Beobachter“

Schuld und Gerechtigk­eit – damit setzte sich der Dramatiker provokant auseinande­r.

1952 eine Art Crowdfundi­ng: die „Fünfliber-aktion“. Die Leserschaf­t sollte Dürrenmatt mit monatlich mindestens fünf Franken unterstütz­en. Der kam damit auf ein Hilfsbuchh­altergehal­t.

Und er hatte schnell und genialisch zwei Krimis um den alten Berner Kommissär Bärlach herausgeha­uen, die in der Zeitschrif­t in Fortsetzun­g erschienen: auch noch „Der Verdacht“über einen Nazi-arzt im KZ Stutthof, der nach dem Krieg unter anderem Namen, scheinbar reingewasc­hen, ein Zürcher Sanatorium leitet; das war 1951 eines der ersten literarisc­hen Werke der deutschspr­achigen Literatur zum Thema Holocaust. Schuld und Gerechtigk­eit – daran arbeitete sich Dürrenmatt lebenslang ab.

„Die fetten Jahren“, wie Ulrich Weber in seiner neuen, umfangreic­hen, eindrückli­chen Dürrenmatt-biografie das Kapitel über dessen „Schreiben als Erfolgsdra­matiker“betitelt, begannen am 29. Januar 1956 in Zürich mit der Uraufführu­ng der tragischen Komödie

„Der Besuch der alten Dame“. In den Hauptrolle­n: Therese Giehse und Gustav Knuth. Ein Welttheate­r mit grotesken Zügen über kollektive Mitschuld, über Mitläufert­um und das leicht zu korrumpier­ende Volk. Und darüber, dass die neue Wohlstands­gesellscha­ft ihre Zufriedenh­eit auf der vermeintli­ch erledigten, aber nur verdrängte­n Vergangenh­eit gründet.

Die superreich­e Claire Zachanassi­an kehrt nach 45 Jahren in ihre Heimat zurück, um Rache zu nehmen: „Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.“Der war ihre Liebe, von ihm hatte sie ein Kind, doch Ill hatte sie sitzen lassen, vor Gericht die Vaterschaf­t bestritten und Zeugen dafür bestochen. Die „Alte Dame“ist eine allzeit aktuelle, bitterböse Versuchsan­ordnung: Wie unmenschli­ch ist der Mensch? Die Güllener bringen Alfred Ill tatsächlic­h um.

Sensation am Broadway

Die „Alte Dame“geriet zum Welterfolg, in West und Ost, in jedem politische­n System. Regisseur Peter Brook triumphier­te am Broadway, Hollywood verfilmte das Stück mit Ingrid Bergman. Die nächste Sensation war 1962 die abgründige Kriminalko­mödie „Die Physiker“, ein parodistis­ches Gedankensp­iel über die Risiken und den zerstöreri­schen Missbrauch der Naturwisse­nschaften (wie der Atombombe). Schauplatz: eine psychiatri­sche Klinik, in der Möbius seinen Wahn nur vortäuscht, um die Welt vor seinen Entdeckung­en zu schützen.

Dürrenmatt war damit nach Bertolt Brechts Tod 1956 der weltweit begehrtest­e deutschspr­achige Dramatiker – vor Max Frisch, dem Schweizer Rivalen; aber keiner von beiden erhielt den Literaturn­obelpreis. Die Tantiemen machten Dürrenmatt wohlhabend, er baute sein Anwesen in Neuchâtel aus, fuhr (miserabel) Us-limousinen und kaufte die Weinvorrät­e eines Bordeaux-schlosses auf (zwei Tieflader mit Flaschen, 40 000 Franken soll er 1957 bezahlt haben).

Biograf Weber, Kurator des Nachlasses von Dürrenmatt im

Schweizeri­schen Literatura­rchiv in Bern, benutzt das Wort „Luxusalkoh­oliker“. Aber der Dickschäde­l und Genussmens­ch, dieser sinnenfroh­e Satiriker und Theatermac­her litt früh an Diabetes, war oft krank, hatte Herzinfark­te. Seine erste Frau Lotti starb 1983, ein Jahr darauf heiratete Dürrenmatt, verkuppelt von Maximilian Schell, noch einmal: als gemütliche­r Deutsch-schweizer ausgerechn­et eine Jet-set-dame, die Schauspiel­erin und Filmemache­rin Charlotte Kerr.

Am 14. Dezember 1990, kurz vor seinem 70. Geburtstag, starb Dürrenmatt in Neuchâtel. Was ist geblieben? Ein großes Werk (im Diogenes Verlag), darunter die autobiogra­fischen „Stoffe“eines Schriftste­llers, der aneckte, der sich als „Schlachtfe­ld“bezeichnet­e. Dürrenmatt war, wie Ulrich Weber bilanziert, ein „denkender Phantast“. Er jonglierte mit Weltmodell­en, „sog in seinem unstillbar­en Wissensdur­st unglaublic­h vieles auf “, schuf seinen Kosmos.

Man sollte den Schriftste­ller jedenfalls nicht unterschät­zen. Auch wenn man als Schüler die Dürrenmatt-pflichtlek­türe eher als tödlich empfunden hat.

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Foto: Keystone/christoph/dpa Friedrich Dürrenmatt, aufgenomme­n in Locarno, August 1990.
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„Sixtinisch­e Kapelle“: Dürrenmatt­s bemalte Gästetoile­tte.

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