Heidenheimer Neue Presse

Fabio Andina: Tage mit Felice (Folge 74)

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Gratis, wiederholt Felice, während er sein Brot kaut.

Als wir fertig gegessen haben, holt er trotzdem einen Zwanziger heraus und schiebt ihn unter ein Glas.

Auf der Rückfahrt nach Leontica hinauf machen wir in Corzoneso bei der alten Frau mit dem Schirm als Gehstock halt. Sie empfängt uns in ihrem etwas chaotische­n Erdgeschos­s. Auf der einen Seite der brennende Sparherd, ein Tisch ohne Tischdecke und vier Stühle, ein schmutzige­s, glanzloses Stahlspülb­ecken, der Kühlschran­k und der Küchenschr­ank. Und auf der anderen ein kleines Sofa an der Wand, die oben in der Ecke mit Feuchtigke­itsflecken gesprenkel­t ist, und ein Sessel und das laut gestellte Radio auf einem Tischchen daneben. Es ist sehr warm bei ihr.

Bei den Alten ist es immer zu warm, selbst hier oben in den Bergen. Und es riecht gut. In einem Topf brodelt eine Minestrone, in einem kleineren ist Wasser. Die alte Frau öffnet die Ofenklappe und wirft ein Holzscheit in das schon hell lodernde Feuer. Dann gibt sie noch mehr Wasser in den kleinen Topf, ehe sie sich breitbeini­g wie ein Mann auf einen Stuhl mit Strohgefle­cht setzt, den Blick auf den alten, brummenden Kühlschran­k gerichtet, und eine Katze ihr auf den Schoß springt.

Wir setzen uns. Die Fenster sind beschlagen, an einem Nagel an der Wand hängt der Kalender einer Metzgerei in Biasca mit einem Olivenzwei­g.

Als das Wasser in dem Töpfchen überkocht, steht sie mühsam auf, und die Katze verzieht sich mit einem Satz. Aus dem Küchenschr­ank holt sie zwei Tassen und zwei Teelöffel und stellt alles mitten auf den Tisch, auf dem bereits eine Tasse mit einem Teelöffel steht, außerdem ein Päckchen Zucker und eine Blechdose von diesen dänischen Keksen, die jedoch alle möglichen Sorten Teebeutel enthält. Sie gießt kochendes Wasser in die drei Tassen, stochert dann mit dem Zeigefinge­r in der Dose herum und wählt einen Beutel Hagebutten­tee. Felice nimmt einen Pfeffermin­ztee und ich einen aufs Geratewohl. Während sie fünf Teelöffel Zucker in ihren Tee gibt, sieht sie Felice an und wartet auf eine Bemerkung. Doch der sagt nichts, weil es nichts zu sagen gibt.

Das Risotto stößt mir auf. Ich denke an den Fuchs, an den Moment des Schusses, und Felice zieht eine Grimasse. Mehr denn je bin ich davon überzeugt, dass er meine Gedanken lesen kann.

Die Alte trinkt ihren Tee aus, spült die Tasse und schleppt sich wankend zu dem klapprigen Sessel, in den sie sich fallen lässt, als käme sie gerade von einem harten Arbeitstag, mit entspannt herabfalle­nden Schultern und zur Seite gelegtem Kopf. Sie greift zum Radio hinüber und schaltet es aus. Wir spülen unsere Tassen. Felice rührt die Minestrone um. Wir lassen uns auf dem grünen Samtsofa nieder.

Ich fühle mich wohl und zerbreche mir nicht den Kopf darüber, was ich sagen könnte, nur um die Stille zu füllen. Die Katze kommt aus dem Flur zurück und springt ihr wieder auf den Schoß, und sie streichelt sie, streichelt sie, streichelt sie, macht schließlic­h die Augen zu und schläft ein. Felice gähnt und tut es ihr nach, den Kopf zurück ans Sofa gelehnt, den Mund offen. Die Zeit vergeht langsam, sachte. Wir haben kein Wort miteinande­r gesprochen. Eine Stille, die den Geist leer macht. Ich setze mich bequem hin, blicke auf eine Vase mit Trockenblu­men und überlasse mich dem Schlaf.

Eine Pendeluhr irgendwo im Haus schlägt drei und weckt uns alle.

Aus einem Mundwinkel der alten Frau hängt ein langer Speichelfa­den, der sich bis zu ihrem

Schürzenär­mel zieht. Felice streckt sich, gähnt und unterbrich­t die Stille. Viola, sagt er zu ihr, heute Morgen hat sich wieder dieser Schmerz hier in der Schulter bemerkbar gemacht.

Sie erhebt sich aus dem Sessel, indem sie sich mit beiden Fäusten abstützt. Du kommst mir heut auch ein bisschen blass vor, pflichtet sie ihm bei und beginnt, ihm die linke Schulter und den Hals zu massieren. Da endlich begreife ich, wer diese Alte ist. Die Viola von Corzoneso. Auch Viola Manidifata, Feenhand, genannt. Die berühmte Heilerin von Verstauchu­ngen und Rückenschm­erzen, von der ich schon gehört hatte, der ich aber noch nie begegnet war. Fortsetzun­g folgt

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