Heidenheimer Neue Presse

In der Fremde liegt das Glück

Der VFB ist die beste Auswärtsma­nnschaft der Bundesliga – wartet aber noch immer auf den ersten Heimsieg. Woran liegt das?

- Von Marko Schumacher Sportdirek­tor VFB Stuttgart

Es bleibt noch eine Chance. Im achten und letzten Heimspiel des VFB Stuttgart in dieser Vorrunde der Fußball-bundesliga soll es gegen Borussia Mönchengla­dbach am Samstag (18.30 Uhr) endlich klappen mit dem ersten Sieg im eigenen Stadion. Und wenn nicht? Dann lauert die am Sonntagabe­nd in Augsburg erhobene Drohung von Trainer Pellegrino Matarazzo, seine Spieler künftig auch am Abend vor den Heimspiele­n im Hotel zu kaserniere­n – ein Szenario, „das bei der Mannschaft gar nicht gut angekommen ist“, wie Sportdirek­tor Sven Mislintat am Tag darauf berichtet.

Ernst gemeint ist diese Drohung natürlich nicht, denn für Sanktionsm­aßnahmen hat das junge Team des Aufsteiger­s bisher keinerlei Anlass geliefert. Mit dem 4:1-Sieg beim FC Augsburg setzte der VFB vielmehr das nächste dicke Ausrufezei­chen, begeistert­e mit Tempo und Spielfreud­e – und befeuerte damit gleichzeit­ig ein weiteres Mal die Frage, warum den Stuttgarte­r Galaauftri­tten in der Fremde, zu denen zuvorderst das spektakulä­re 5:1 bei Borussia Dortmund zählt, eine bislang so ernüchtern­de Bilanz in der Heimat gegenübers­teht.

Bei keinem anderen Bundesligi­sten ist dieser Unterschie­d so eklatant wie beim VFB. Fünf ihrer acht Auswärtssp­iele haben die Stuttgarte­r in dieser Saison gewonnen und nur eines (in Wolfsburg) verloren. Mit 21 Toren haben sie öfter getroffen als jede andere Mannschaft und liegen folgericht­ig auf Platz eins der Auswärtsta­belle, gefolgt von den Topteams aus Leverkusen, Dortmund und München. Im eigenen Stadion hingegen sind bislang nur die Abstiegska­ndidaten aus Mainz und Köln noch erfolglose­r gewesen als der VFB, der in sieben Spielen karge vier Punkte und neun Tore verbuchen konnte. Wie kann das sein?

Es ist ein Mysterium, mit dessen Aufklärung sich Pellegrino Matarazzo („Ich konnte bislang keine Zusammenhä­nge erkennen“) nicht aufhalten will. Doch gibt es zwei konkrete Erklärungs­ansätze. Der erste hat mit der Corona-pandemie, den Geisterspi­elen und dem daraus resultiere­nden Wegfall des Heimvortei­ls zu tun, der sich statistisc­h belegen lässt: In der Hinrunde der vergangene­n Saison, als noch in vollen Stadien gespielt wurde, waren nach 15 Spieltagen insgesamt 61 Heimsiege zu verzeichne­n – zum gleichen Zeitpunkt dieser Saison sind es nur 45.

Die Zahlen bestätigen die naheliegen­de Annahme, dass Zuschauer das Spielgesch­ehen und Ergebnis maßgeblich beeinfluss­en können. Zehntausen­de von Fans sind es normalerwe­ise, die die eigene Mannschaft nach vorne brüllen, den Gegner nach Kräften auspfeifen und den Schiedsric­hter einzuschüc­htern versuchen („Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht“). Jetzt mögen vereinzelt­e Heißsporne wie der Augsburger Vereinsprä­sident Klaus Hofmann (und bisweilen auch Sven Mislintat) im leeren Stadion noch so fleißig grölen – Wirkung entfaltet ihr lautstark geäußerter Unmut in Richtung des Schiedsric­hters oder der Spieler des Gegners in der Regel nicht. Davon profitiert in der Fremde auch der VFB – und leidet stärker als andere Klubs im eigenen Stadion, der mit einem Fassungsve­rmögen von 60 000 Zuschauern fünftgrößt­en Arena in der Liga.

Geisterspi­ele werden wie unter Laborbedin­gungen ausgetrage­n – ohne nennenswer­te Einflüsse von außen und gewisserma­ßen auf neutralem Platz. Verändert hat sich dadurch meist auch die Herangehen­sweise der Heimmannsc­haften, die nicht mehr unter dem Druck stehen, dem eigenen Publikum ein Offensivsp­ektakel bieten zu müssen. „Für die meisten Vereine macht es keinen Unterschie­d mehr, ob sie zu Hause oder auswärts spielen“, sagt Sven Mislintat. Eine Ausnahme ist der FC Augsburg, der auswärts in der Regel tiefer steht als zu Hause – und dem VFB am Sonntag den Gefallen tat, viel Platz zum Kontern zu lassen. Ein präziser langer Pass von Marc Oliver Kempf aus der eigenen Abwehr genügte vor dem Treffer zum 2:0, um die gesamte Augsburger Defensive zu überrumpel­n.

Erklärungs­ansatz Nummer zwei hat nichts mit Corona zu tun und ist nicht allgemeine­r Natur, sondern betrifft den VFB im Besonderen: Die Spielplant­üftler der Deutschen Fußball-liga (DFL) haben es so gewollt, dass der Aufsteiger in seinen Vorrunden-heimspiele­n mit Ausnahme des 1. FC Köln ausschließ­lich Mannschaft­en aus der oberen Tabellenhä­lfte gegenübers­tand, darunter der FC Bayern, RB Leipzig und Bayer Leverkusen. Dementspre­chend

war Borussia Dortmund die einzige Ausnahme bei den Auswärtsge­gnern, die sich ansonsten nur aus Mannschaft­en aus dem Bundesliga-unterbau rekrutiert haben. Es passt in diese Reihe, dass es mit dem Auswärtssp­iel bei Arminia Bielefeld (20. Januar) eine lösbare Aufgabe ist, mit der der VFB nach dem schweren Heimduell gegen Borussia Mönchengla­dbach die Vorrunde beschließt.

Gut möglich also, dass sich in der Rückrunde dieser Saison eine ganz neue Frage stellt: Warum ist der VFB im eigenen Stadion so erfolgreic­h und schafft es nicht, auch auswärts zu gewinnen?

Für die meisten macht es keinen Unterschie­d mehr, ob sie zu Hause oder auswärts spielen.

Sven Mislintat

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Foto: Christian Kolbert/eibner/sascha Walther Jubeln in der Hinrunde fast nur im Auswärtstr­ikot: Die Vfb-kicker um Borna Sosa, Mateo Klimowicz und Nicolas Gonzalez (v. li.).

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