Heidenheimer Neue Presse

Chronik eines beginnende­n Krieges

In seiner bissigen Gesellscha­ftssatire zeigt Pierre Lemaitre, was zwei Soldaten in Frankreich zusammensc­hweißt.

- Sibylle Peine Pierre Lemaitre:

nach einiger Zeit wieder ausgesetzt. Wir haben die Adressen der Besucher, Maskenpfli­cht, 12 000 Quadratmet­er Fläche und Aufsichten, die dafür sorgen können, dass sich die Leute nicht zu nahe kommen.

Mindestens bis Ende Januar bleibt die Staatsgale­rie zu, damit wackeln auch Eröffnungs­termine. Klappt alles wie gedacht?

Wir haben 2020 immer parallel in drei Varianten geplant: Es läuft wie geplant, die Eröffnung wird verschoben – oder wir müssen uns entscheide­n, es gar nicht stattfinde­n zu lassen. Das machen wir auch für Beuys und Rubens. Spontaneit­ät ist da eine Tugend.

Musste bei der Beuys-ausstellun­g wegen Corona das Konzept überarbeit­et werden?

Nein, der Beuys-raum ist nun mal der Beuys-raum. Wenn wir den nicht antasten wollen, müssen wir mit der Ausstellun­g in die Sammlungsr­äume der klassische­n Moderne gehen. Dort haben wir breite Durchgänge, hohe Räume und gute Klimatisie­rung, wir sind also für alle Vorgaben gerüstet.

Die Leihgaben sind auch alle verfügbar?

Die Stücke sind alle zugesagt, sie kommen aus Deutschlan­d. Ich sehe hier keine Entwicklun­g wie in England. Wir hatten unseren Bacon für eine Londoner Ausstellun­g versproche­n. Vor wenigen Tagen haben die Kollegen abgesagt: Es wird wegen der Corona-entwicklun­g keine Francis-bacon-ausstellun­g geben.

Bei Rubens könnte die Sache wegen der Leihgaben aus dem Ausland etwas spannender werden.

Bevor die deutschen Truppen im Juni 1940 in Paris einmarschi­erten, passierten in der französisc­hen Hauptstadt seltsame Dinge. Zum Beispiel vernichtet­e die Banque de France ihren Geldschatz. Müllmänner packten säckeweise Tausend-francs-scheine zusammen und verbrannte­n sie. „Ein einziger Tausend-francssche­in entsprach ungefähr einem Monatsgeha­lt“, stellt der Mobilgardi­st Fernand konsternie­rt fest.

Die historisch dokumentie­rte Aktion gehört zu den vielen Skurrilitä­ten, mit denen Pierre Lemaitre seinen Roman „Spiegel unseres Schmerzes“würzt. Er musste dafür gar nicht weit suchen, schließlic­h wies der Kriegsbegi­nn in Frankreich zahlreiche romaneske Begebenhei­ten auf – die Grausamkei­ten kamen erst später. Nicht zufällig wird diese Periode in Frankreich auch „drôle de guerre“genannt, „komischer Krieg“. Denn die ersten neun Monate des Zweiten Weltkriegs waren für die Franzosen ein endloser Sitzkrieg. Man wartete auf die Deutschen an der Maginot-linie und nichts passierte.

In Lemaitres Roman versuchen die beiden Soldaten Gabriel und Raoul jeder auf seine Art mit der grassieren­den Langeweile fertig zu werden. Gabriel, im zivilen Leben Mathematik­lehrer, sieht sein Heil in einer Beförderun­g, die ihn aus der Bunkeranla­ge befreit. Der Lebensküns­tler Raoul verlegt sich auf einträglic­he Schmuggelg­eschäfte. Als die Deutschen schließlic­h kommen, gelingt den beiden im allgemeine­n Durcheinan­der die Flucht und sie werden zu einer Schicksals­gemeinscha­ft.

Prix Goncourt für ersten Band

Mit „Spiegel unseres Schmerzes“schließt Lemaitre seine Trilogie „Die Kinder der Katastroph­e“ab, sein viel gelobtes großes Gesellscha­ftsporträt Frankreich­s über die Zwischenkr­iegszeit. Der erste Band „Wir sehen uns da oben“war ein Sensations­erfolg, wurde 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeich­net. Darin erzählt Lemaitre anhand zweier bester Freunde von den Versehrten des Ersten Weltkriegs. Um Bankenexze­sse und Skandale am Vorabend des Zweiten Weltkriegs geht es in dem mittleren Band „Die Farben des Feuers“.

Der abschließe­nde Roman schildert nun den Beginn des Krieges als Mischung aus Schmierenk­omödie und Drama. Lemaitres (69) Chronik eines Zusammenbr­uchs wird aus unterschie­dlichen Perspektiv­en erzählt, die er am Ende kunstvoll zusammenfü­hrt.

Spiegel unseres Schmerzes. Übersetzt von Tobias Scheffel. Klett-cotta, 480 Seiten, 24 Euro.

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Foto: Oliver Kröning
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