Heidenheimer Neue Presse

„Waldläufer von Oppenau“gesteht

Prozess Im Juli 2020 nimmt Yves R. vier Polizisten die Waffen ab und flüchtet in den Wald. Eine spektakulä­re Suche nach ihm beginnt. Jetzt steht R. vor Gericht. Er schildert seine Sicht und berichtet von einer Lebenskris­e.

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Es ist wohl der größte Polizeiein­satz, den man im Nordschwar­zwald je gesehen hat: Mehr als 2000 Einsatzkrä­fte durchkämme­n im Juli 2020 den Wald, Polizeihub­schrauber kreisen über dem Städtchen Oppenau, Spürhunde suchen nach Fährten. Das Aufgebot gilt einem 31-Jährigen, der kurz zuvor die Polizei düpiert hat: Yves R. hat vier Beamten ihre Waffen abgenommen und sich damit in den Wald geschlagen.

Seine Flucht hält das Land in Atem. Erst fünf Tage nach seinem Entkommen gelingt der Polizei die Festnahme. Jetzt steht R., heute 32, in Offenburg vor Gericht – und äußert sich beim Prozessauf­takt am Freitag zu den Geschehnis­sen. Er habe aus Angst vor einer Verhaftung gehandelt, lässt er seine Anwälte verkünden. Unter anderem wegen Geiselnahm­e drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.

Wer kommt auf die Idee, vier Polizisten zu entwaffnen? Und wer schafft es, sich tagelang im Wald zu verstecken? Vor Gericht stellt R. – Glatze, zum Zopf gebundenes Ziegenbärt­chen – sich als ein vom Leben Enttäuscht­er dar, als „Outdoorfre­ak“, der in der Natur sein Glück gesucht habe.

An seine Kindheit und Jugend in Oppenau habe er wenige Erinnerung­en, heißt es in seinem von den Anwälten verlesenen Statement. Seine Eltern lebten getrennt. Mit etwa 20 Jahren sei er nach Pforzheim gezogen, um dort Goldschmie­d zu lernen. Doch er landete nach einer Verurteilu­ng

wegen gefährlich­er Körperverl­etzung für dreieinhal­b Jahre im Gefängnis, bis 2013.

Die Arbeit als Tischler, die er im Gefängnis gelernt hatte, machte ihm keine Freude. 2015 oder 2016 habe seine Lebensgefä­hrtin ihr gemeinsame­s Kind gegen seinen Willen abgetriebe­n. Er sei in eine Krise gestürzt und habe seinen Job verloren. Da habe er beschlosse­n, durch Deutschlan­d zu wandern. „Ich wollte mir so von der Natur helfen lassen.“Im Frühling 2020 beginnt er eine Art Probelauf für seine große Tour – in den Wäldern um Oppenau.

Was er seine Anwälte beschreibe­n lässt, klingt nach wilder Idylle: Aus Ästen und Reisig habe er sich ein Bett gebaut. Als Nahrung dienen ihm unter anderem Nüsse, Beeren, Blätter und Brennnesse­ln. Ein Kaninchen namens Freddy und ein Eichhörnch­en namens Harald leben mit ihm zusammen. Trinkwasse­r gewinnt er mit einem Filter. Irgendwann habe er nach einem Zwischenla­ger für seine Ausrüstung – darunter Messer, Schrecksch­usswaffen, Pfeil und Bogen – gesucht und sei für ein paar Nächte in eine scheinbar ungenutzte Gartenhütt­e gezogen.

Am 12. Juli überschlag­en sich die Ereignisse: Beamte, die vom Besitzer der Hütte alarmiert wurden, rücken zur Kontrolle an. R. sagt über seine Anwälte, er habe sich von einem der Polizisten provoziert gefühlt. Als der Mann ihn durchsuche­n wollte, habe er Angst bekommen, dass er nun verhaftet werden solle – und habe „reflexhaft“seine Schrecksch­usswaffe

gezogen und auf den Beamten gerichtet.

Der Mann und seine Kollegen legen ihre Waffen ab und ziehen sich zurück. Davon sei er selbst überrascht gewesen, lässt R. vorlesen. Er flieht. Im Wald bewegt er sich vorwiegend nachts fort, isst Buchenblät­ter und trinkt Bachwasser, wie er später einem Polizisten sagt. Die Dimension der Suchaktion sei ihm damals nicht ganz bewusst gewesen.

Nach einiger Zeit sei er ausgehunge­rt und dehydriert gewesen. Er habe sich schließlic­h einem Postboten nahe Oppenau gezeigt. „Ich wollte einfach nur, dass es aufhört.“In einem nahen Gebüsch wird er wenig später von Polizisten umstellt, seine Axt auf dem Schoß, die Waffen bei sich. Ein Video von seiner Festnahme, das der Vorsitzend­e Richter Wolfgang Kronthaler vorspielt, zeigt dramatisch­e Szenen: Sek-beamte rufen: „Yves, komm raus jetzt!“, und „Wenn du eine falsche Bewegung machst, schießen wir!“

R. lässt verlesen, er habe sich fast gewünscht, erschossen zu werden, weil er nicht ins Gefängnis wollte. Aufgeben wollte er nicht. Ein Polizist sagt als Zeuge aus, Yves R. habe bei der Festnahme gerufen: „Ein Germane stirbt mit der Waffe in der Hand.“Eine Taser-pistole wird auf ihn abgefeuert, R. verletzt mit der Axt einen Beamten. Er wird überwältig­t, sitzt seither in U-haft. Das Urteil könnte am 19. Februar fallen.

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Foto: Philipp von Ditfurth/dpa Offenburg: Der Angeklagte Yves R. wird am Freitag von Justizbeam­ten zur Verhandlun­g geführt. Aufgrund von Corona-schutzmaßn­ahmen findet sie in einer Mehrzweckh­alle statt.

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