Die wahre Gefahr
Ein Gespenst geht wieder einmal um, das die Deutschen besonders schreckt: Die Inflation kehrt zurück und bedroht ihr mühsam zusammengespartes Vermögen. Die Hyperinflation des Jahres 1923 ist zwar schon fast ein Jahrhundert her, und die Zahl derjenigen, die sie noch selbst erlebt haben, ist sehr überschaubar. Doch in den Hinterköpfen der Bundesbürger ist sie fest verankert. Daher sorgt es schon für aufgeregte Diskussionen, wenn Bundesbankpräsident Jens Weidmann für das zweite Halbjahr eine Preissteigerung von über drei Prozent vorhersagt. Doch für eine anhaltend hohe Inflation spricht derzeit wenig.
Wir sind ein gutes Stück verwöhnt: Im letzten Jahr stiegen die Preise nur um 0,5 Prozent, also kaum merkbar. In der zweiten Jahreshälfte war die Inflationsrate sogar leicht negativ. Das hatte einen einfachen Grund: Die Mehrwertsteuer wurde gesenkt, was den Staat viel kostete, aber den Konsum kaum belebte. Hinzu kamen die niedrigen Ölpreise. Beide Effekte sind in diesem Jahr weggefallen. Daher muss im Jahresvergleich die Teuerung im zweiten Halbjahr 2021 zwangsläufig umso höher ausfallen. Das ist ein einmaliger Effekt, der sich 2022 nicht wiederholt. Zudem ist der Rohölpreis, diese launische Diva, in den letzten Wochen kräftig gestiegen – ein Faktor, auf den die deutsche Politik keinen Einfluss hat.
Im Jahresdurchschnitt dürfte die Inflation 2021 etwa 1,5 Prozent erreichen, erwarten die Experten. Das wäre immer noch weniger als die zwei Prozent, die die Europäische Zentralbank (EZB) seit Jahren anstrebt, und das ohne Erfolg. Sie hat Angst vor Deflation, also vor sinkenden Preisen: Die könnten zu einem Abwarten der Käufer führen und damit zu einer Abwärtsspirale. Auch so ein Gespenst, das eher in Lehrbüchern vorkommt als in der Praxis.
Gegen ein Anziehen der Inflation spricht zudem, dass die Löhne in diesem Jahr eher mäßig steigen dürften. Angesichts der anhaltenden Corona-einschränkungen lassen sich in vielen Branchen kaum Lohnerhöhungen durchsetzen. Es ist also wenig Druck da für die Unternehmen, steigende Kosten auf die Preise umzuwälzen. Zwar gelten Konjunkturpakete, wie sie gerade die USA aufgelegt haben, als Preistreiber. Doch auf Deutschland und Europa dürfte das kaum überschwappen.
Die niedrigen Zinsen sind eine kalte Enteignung der Sparer, deren Altersvorsorge immer weniger wert ist.
Ein viel größerer Schrecken als die Inflation sind die negativen Zinsen. Mit der Fortsetzung ihrer lockeren Geldpolitik hat die EZB am Donnerstag erneut fast verzweifelt versucht, Deflation zu verhindern. Die Leidtragenden sind die Sparer. Die Zinsen für ihre Guthaben liegen weit unter der Preissteigerung. Häufig sind sie sogar negativ. Letztlich ist das eine kalte Enteignung der Sparer, deren Altersvorsorge immer weniger wert ist. Zwar nimmt die Bereitschaft zu, die Spargroschen in riskantere Anlagen wie Aktien zu stecken, aber eher langsam. Das ist die eigentliche Gefahr derzeit: Wenn das Vermögen durch Negativzinsen aufgefressen wird, verliert es auch ohne Inflation an Wert. Das kann kein Dauerzustand sein. Die Bürger brauchen wieder Vertrauen in den Wert ihres Geldes.