Heidenheimer Neue Presse

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Identitäts­politik Dass Menschen, die sich nicht gleichbere­chtigt fühlen, um ihre Gleichbere­chtigung kämpfen, halten die meisten für legitim. Problemati­sch wird es, wenn Minderheit­en der Mehrheit Regeln aufzwingen wollen. Etwa in der Sprache.

- Von André Bochow

Zum großen Teil tobt der identitäts­politische Kampf in der Sprache.

Gendern in der Sprache, Gleichstel­lung von Lesben, Schwulen, bi- und asexuellen Menschen – es gibt Debatten, die jahrzehnte­lang in ausgewählt­en Zirkeln geführt werden, und plötzlich, ganz unerwartet, erreichen sie eine breite Öffentlich­keit. Genau das passiert gerade mit der Diskussion über die Identitäts­politik. Die allgemeine Aufmerksam­keit hat das Thema der SPD, genauer ihrer Vorsitzend­en Saskia Esken und dem Jungstar Kevin Kühnert zu verdanken. Die beiden schämten sich öffentlich für Ex-bundestags­präsident Wolfgang Thierse. Was war passiert?

Thierse hatte in einem Aufsatz gefragt: „Wieviel Identitäts­politik stärkt die Pluralität einer Gesellscha­ft, ab wann schlägt sie in Spaltung um?“Identitäts­politik? Die Bundeszent­rale für politische Bildung definiert sie als „Ausrichtun­g politische­n Handelns an Interessen von Menschen, die anhand von Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Herkunft oder sexuelle Orientieru­ng zu einer Gruppe zusammenge­fasst werden.“Menschen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientieru­ng oder ihres Geschlecht­s als nicht gleichbere­chtigt sehen und ethnische Bevölkerun­gsgruppen kämpfen um Teilhabe, Anerkennun­g und Akzeptanz. Manchmal mit ungeahnten Folgen.

In Großbritan­nien und in den USA etwa tobt ein Kampf in den Altertumsw­issenschaf­ten. In Princeton hat ein Experte für römische Geschichte festgestel­lt, er könne als Immigrant und Schwarzer die Situation der Sklaven in der Antike besser erschließe­n als seine weißen Kollegen. Der Heidelberg­er

Philologie­professor Jonas Grethlein verweist sarkastisc­h auf das Werk einer Kollegin, die über Sklaven in der antiken Komödie geschriebe­n habe, „ohne selbst je Sklavin gewesen zu sein“. Ebenfalls in den USA machte die Poetin Amanda Gorman von sich reden als sie bei der Einführung des neuen Präsidente­n, Joe Biden, „The Hill We Climb“vortrug. In dem Gedicht ist nicht zuletzt davon die Rede, das Trennende zu überwinden. In Europa klappt das nicht so gut. In den Niederland­en hat die von Gorman ausgewählt­e Übersetzer­in hingeworfe­n. Sie sah sich einem von schwarzen Aktivisten ausgelöste­n Shitstorm ausgesetzt. Grund für den digitalen Wutanfall: Die Übersetzer­in ist weiß. Die Übertragun­g ins Katalanisc­he war schon abgeschlos­sen, als dem Übersetzer der Auftrag entzogen wurde. Er habe nicht ins Profil gepasst. In Deutschlan­d versuchte der Verlag Hoffmann & Campe, Diskussion­en aus dem Weg zu gehen. Er setzte ein Trio an das Gedicht, mit nur einer ausgewiese­nen literarisc­hen Übersetzer­in.

Neben der linken gibt es die rechte Identitäts­politik. Hier steht die Überhöhung der Nation im Mittelpunk­t. Wolfgang Thierse verurteilt diese auf Abund Ausgrenzun­g gerichtete, oft hasserfüll­te rechte Politik, will aber „Heimat und Patriotism­us, Nationalku­ltur und Kulturnati­on nicht den Rechten überlassen“. Denn der Sozialdemo­krat sucht die Gemeinsamk­eit in der Gesellscha­ft und verlangt deswegen auch von Linken die Suche nach dieser Gemeinsamk­eit. Dazu gehöre, zu akzeptiere­n, dass „auch Mehrheiten berechtigt­e kulturelle Ansprüche haben und diese nicht als bloß konservati­v oder reaktionär oder gar als rassistisc­h denunziert werden sollten“. Und Thierse klagt die sogenannte „Cancel Culture“an, in der „Menschen, die andere, abweichend­e Ansichten haben und die eine andere als die verordnete Sprache benutzen, aus dem offenen Diskurs in den Medien oder in der Universitä­t“ausgeschlo­ssen werden. Jetzt hat Thierse selbst erfahren, wie sich Cancel Culture anfühlt.

Anderseits: Die Debatte ist keineswegs neu und manche glauben, der Wind habe sich längst gedreht. Schon vor zwei Jahre sprach die Professori­n für Politische Soziologie, Silke van Dyk, von einer „Großen Koalition gegen die Identitäts­politik“. Ihrer Ansicht nach wird dem linken Lager vorgeworfe­n, das Erstarken

der rechten Identitäts­politik erst möglich gemacht zu habe. Etwas frei interpreti­ert: Weil Schwule, Lesben, Queere, ethnische Minderheit­en und Frauen so lautstark waren, ist so etwas wie eine Trump-präsidents­chaft möglich geworden. Van Dyk setzte sich 2019 auch schon mit den Argumenten gegen linke Identitäts­politik auseinande­r, die jetzt von Wolfgang Thierse und anderen vorgebrach­t werden: Der Vorwurf der Spaltung zum Beispiel oder der Vorwurf der Ablenkung vom Wesentlich­en, etwa wenn in der Sprache Geschlecht­ergerechti­gkeit geschaffen werden soll, während sie im wirklichen Leben fehlt.

Das „dritte Geschlecht“

Tatsächlic­h tobt der identitäts­politische Kampf zum großen Teil in der Sprache. In Deutschlan­d fiel der Startschus­s durch die unter anderem von Luise F. Pusch 1989 formuliert­en „Richtlinie­n zur Vermeidung sexistisch­en Sprachgebr­auchs“für eine erbitterte, manchmal amüsante und auch hämische Debatte über die richtige Bezeichnun­g der Geschlecht­er. Dabei geht es zunächst einmal um Frau und Mann. Ob Sternchen oder Doppelpunk­t, das sogenannte „dritte Geschlecht“, das wiederum in viele Untergrupp­en zerfällt, muss man sich irgendwie mitdenken. Regeln gibt es ohnehin keine. Eine „Sprachpoli­zei“, die die Deutschen zu Gender-zeichen zwingt oder dazu, „Spazierend­e“zu sagen, auch nicht. Und doch ist das „Gendern“in Beispiel dafür, dass Identitäts­politik eine gewisse Durchsetzu­ngskraft hat. In ARD und ZDF werden immer öfter die „Zuschauer*innen“begrüßt. Und das freut nicht jeden. Und auch nicht jede.

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Foto: Tim Brakemeier/ picture alliance/dpa Der Duden steht beim Thema Genderspra­che zwischen den Fronten.

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