Worum es geht
An diesem Sonntag geht ein beispielloser Landtagswahlkampf zu Ende. Kein Auftritt von Politikern vor Menschenmassen, kein Händeschütteln der Kandidaten mit potenziellen Wählern, kein Schlagabtausch vor Live-publikum. Das allseitige Loblied auf die Möglichkeiten der sozialen Medien kann über die Schwächen nicht hinwegtäuschen, die dieses den Pandemie-bedingungen geschuldete virtuelle Kräftemessen hat: Likes und digital versendete Herzchen können den direkten Austausch mit den Bürgern auf dem Wochenmarkt oder das Raunen im Saal als Seismograf für gesellschaftliche Befindlichkeiten nicht ersetzen. Digitale, aus nachgestellten Studio-wohnzimmern ausgestrahlte Formate können die Nähe nur simulieren, die Politik auch benötigt, um das Ohr am Bürger zu haben. Bei künftigen Wahlen wird hoffentlich beides gleichberechtigt möglich sein, der klassische Haustürwahlkampf und die digitale Zielgruppenansprache.
Corona hat nicht nur die Bedingungen des Wahlkampfs diktiert, sondern auch die Inhalte. Natürlich müssen die Parteien ihre Positionen zu dem alles überragenden Top-thema Corona, das tief in den Alltag aller Bürger eingreift, strittig herausarbeiten. Alles andere ginge an der Lebensrealität und auch an den Bedürfnissen des Gros der Baden-württemberger vorbei. Die starke Fokussierung hat aber eine große Kehrseite: Sie droht die Themen zu überlagern, die in nächsten fünf Jahren größere Bedeutung haben werden als die tagesaktuellen Corona-aufwallungen um den richtigen Mix der Perspektiv-instrumente Impfen, Testen, Öffnen.
Die Politik in Stuttgart steht oft im Schatten der Entscheidungen in Brüssel und Berlin. Aber gerade die Pandemie hat gezeigt, dass im föderalen
System die Länder starke Kompetenzen haben. So gerne Kanzlerin Angela Merkel (CDU) der Corona-politik ihren Stempel aufgedrückt hätte – ohne die Zustimmung der Ministerpräsidentenrunde ist sie bei den Pandemie-maßnahmen machtlos. Zur Wahl steht indes nicht so sehr das Verhältnis von Berlin und Badenwürttemberg, es geht viel mehr darum, wer künftig die Weichen für Kernbereiche des Landes stellt.
Welche Schultypen sollen gefördert, wie viele Lehrer eingestellt werden? Welche Kompetenzen soll die Polizei haben, wie präsent im Straßenbild sein? Muss auf jedes Wohnhaus
Kostenlose Kitas, Fotovoltaikpflicht? Die Landespolitik ist für viele alltagsnahe Fragen zuständig.
eine Fotovoltaikanlage, soll die Gebühr für die Kitas entfallen? Für all diese alltagsnahen Fragen ist die Landespolitik primär zuständig. Die künftige Regierung wird Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels finden müssen, aber auch auf den Strukturwandel der Automobilindustrie. Sie wird den Mangel an bezahlbaren Wohnungen in den Ballungsräumen angehen müssen, aber auch die Frage, wie die Krankenhauslandschaft den Anforderungen einer älter werdenden Gesellschaft gerecht werden kann. Es lohnt sich also, von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen – und vor der Entscheidung nicht nur die Tagespolitik oder die Strahlkraft der Spitzenkandidaten zu wägen, sondern auch die Inhalte der Wahlprogramme.