Verlierer Union will weiter mitspielen
Kretschmann führt die Grünen zum Sieg. Die CDU hofft, weiter in der Regierung zu bleiben. Doch auch SPD und FDP streben an die Macht.
Um 17 .45 Uhr gibt Grünen-landtagsfraktionschef Andreas Schwarz schon mal Anweisungen für die Siegerfotos. „Mit Abstand, mit Maske!“, mahnt er das Dutzend grüner Abgeordneter, das sich im zweiten Stock des Landtags zusammengefunden hat. Bei der ersten Hochrechnung solle jemand „stop counting“– nicht mehr zählen – rufen, flachst der scheidende grüne Umweltminister Franz Untersteller. Als Punkt 18 Uhr die erste Hochrechnung über die Bildschirme flimmert, brandet kurz Jubel auf. Eine halbe Stunde später wendet sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann, 72, per Live-stream an Partei und Öffentlichkeit. Er werde die Aufgabe mit großer Freude und Dankbarkeit annehmen, sagt er mit einem Strahlen im Gesicht. Das dritte Mal Ministerpräsident, den Abstand zur einstmals tonangebenden CDU noch vergrößert – er und seine Grünen sind die großen Gewinner dieser Wahl.
Zur gleichen Zeit absolviert Susanne Eisenmann, 56, bereits den Interview-marathon. In die Kameras hinein wiederholt die Cdu-spitzenkandidatin und Kultusministerin, was sie zuvor im Cdu-präsidium gesagt hat: dass sie Verantwortung für die desaströse Niederlage übernehme, dass sich der Landesverband aber auch fragen müsse, warum er seit zehn Jahren immer mehr Zustimmung verliere. Sie wirkt müde, aber auch ein Stück weit erleichtert, dass es jetzt vorbei ist. Politisch steht sie vor dem Aus, ihre Partei liegt am Boden – sie und ihre CDU sind die großen Verlierer dieses Abends.
Jubel hier, Entsetzen dort. Gegensätzlicher könnten die Gefühlslagen nach fünf gemeinsamen Regierungsjahren nicht sein. In den Umfragen hatten sich die gegensätzlichen Trends abgezeichnet. Aber wenn die Prognosen
am Wahlabend Realität werden, haben die Zahlen nochmal eine andere Wucht. „Ich bin deprimiert“, sagt die scheidende Agrar-staatssekretärin Friedlinde Gurr-hirsch (CDU) vor dem Verfügungsraum der Cdu-fraktion. „Wir werden auf der Zeitachse auch neue Köpfe brauchen. Wenn wir in die Opposition kommen, stellt sich die Frage sehr schnell“, sagt Agrarminister und Cdu-präside Peter Hauk. Sonst habe man noch zwei, drei Jahre Zeit. Erst einmal ist der Blick der Partei aber auf die Sicherung der Regierungsmacht gerichtet.
Für Kretschmann, 72, ist seine letzte Spitzenkandidatur die erfolgreichste. Als Corona-krisenmanager war er in den Monaten vor der Entscheidung medial omnipräsent. Im Wahlkampf orientierten sich die Grünen an ihrer 2016er-kampagne: maximale Ausrichtung auf die Person Kretschmann plus Anleihen an Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Grün wählen für Kretschmann“prangt, wie schon 2016, auf den Plakaten von eher unbekannten Wahlkreiskandidaten. Vor fünf Jahren, in der Flüchtlingskrise, hat Ministerpräsident Kretschmann öffentlich bekannt, dass er für Bundeskanzlerin Merkel bete. Nun, in der Corona-krise, wirbt er mit einem Merkel-satz für sich: „Sie kennen mich.“
Wie dagegen ankommen? Susanne Eisenmann war mit großen Hoffnungen und noch größeren Erwartungen in diesen Wahlkampf gestartet. Erst die Fraktion und dann auch die Partei hatten darauf gesetzt, dass sie den Grünen mehr entgegenzusetzen habe als Cdu-landeschef Thomas Strobl, dem sie die Spitzenkandidatur abgetrotzt hatte. Noch bis Ende 2020 hatte es gar nicht so schlecht ausgesehen. Dann kam der Streit um das richtige Tempo bei den Schulöffnungen, Eisenmann hat alles auf eine Karte gesetzt – und dabei offenbar überreizt. Den Schlussspurt haben ihr dann noch die Maskendeals und fragwürdigen Aserbaidschan-geschäfte von Parteifreunden deutlich verhagelt. Den Kampf ums Direktmandat im Wahlkreis Stuttgart II verliert Eisenmann deutlich gegen den grünen Verkehrsminister Winfried Hermann, das langjährige Feindbild der Südwest-cdu.
2011 haben die Grünen die CDU aus der Regierungszentrale vertrieben, 2016 sind sie erstmals stärkste Kraft im Land geworden. 2021 nun haben sie ihre Vormacht ausgebaut, das einstige Stammland der CDU hat sich zur Hochburg der Grünen ausgewachsen. Selbst im ländlichen Raum, der letzten verbliebenen Domäne der Schwarzen, holen die Grünen nun reihenweise Direktmandate. Binnen 15 Jahren haben sich die politischen Verhältnisse im Land komplett umgekehrt.
Kretschmann ist nun in einer sehr komfortablen Situation, er kann sich die Partner aussuchen. Ab Mittwoch wollen die Grünen mit allen Parteien außer der AFD sondieren. Kretschmann werden Präferenzen für eine Neuauflage von Grün-schwarz nachgesagt, in der Partei gibt es aber nicht wenige, die gegen eine Fortsetzung sind. Am deutlichsten artikuliert die Landeschefin der Grünen Jugend,
Sarah Heim, die Kritik: „Wir können es uns nicht mehr erlauben, weiter mit einer CDU zu regieren, die für ihre Visionslosigkeit abgestraft worden ist.“
Die CDU wiederum muss sich entscheiden, ob sie als noch kleinerer Juniorpartner der Grünen weiter mitregieren oder ihr Heil in der Opposition suchen will. In den Führungsgremien der CDU ist man sich einig, dass man unbedingt weiterregieren müsse, allein schon, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, mit der AFD in einen Wettstreit um die lauteste Kritik an einer Dreier-koalition treten zu müssen.
Cdu-fraktionschef Wolfgang Reinhart erklärt, die Bürger wollten mit großer Mehrheit, dass Grün-schwarz weiter regiere. Er selbst will sich an diesem Montag für drei Jahre als Fraktionschef bestätigen lassen. Das Verhandlungsmandat für die Sondierungsgespräche hat Landeschef Strobl, dem die besten Drähte zu den Grünen nachgesagt werden. Eisenmann wird dem Sondierungsteam der CDU nicht angehören. Als es um die Frage ging, wer die CDU als Spitzenkandidat in die Landtagswahl führen solle, wurde Strobls Nähe zu Kretschmann in der Partei noch als Nachteil gesehen.
Nun gilt er als letzte Hoffnung, der CDU wenigstens den Zugang zur Macht zu erhalten. Strobls Comeback ist somit eine Pointe dieses Abends.
Wir werden auf der Zeitachse auch neue Köpfe brauchen. Peter Hauk (CDU) Agrarminister