Heidenheimer Neue Presse

Nachhilfe für alle?

Die Corona-pandemie hat große Lernlücken gerissen, viel Schulstoff wurde verpasst. Wie kann er aufgeholt werden? Die Debatte beginnt erst, doch sie birgt Zündstoff.

- Von Axel Habermehl

Noch ist unklar, wie es nach den Osterferie­n an Schulen weitergeht. Die Pläne der Landesregi­erung von Baden-württember­g für die Zeit ab 12. April stehen noch aus. Am Montag trafen sich Regierungs­chef Winfried Kretschman­n (Grüne), seine Fachminist­er Susanne Eisenmann (Kultus, CDU) und Manfred Lucha (Gesundheit, Grüne) per Videokonfe­renz mit Vertretern von Lehrern und Eltern, um zu besprechen, ob, wie und unter welchen Voraussetz­ungen weitere Klassen nach den Ferien wieder Präsenzunt­erricht erhalten sollen.

Jenseits solch kurzfristi­ger Fragen steht fest: Die Pandemie wird pädagogisc­he Langzeitfo­lgen haben. Schulschli­eßungen, Ausfälle, Fernunterr­icht in wechselhaf­ter Qualität – die Eindämmung­smaßnahmen haben Lernprozes­se gestört, der zu behandelnd­e Stoff wurde eingedampf­t. Wie groß die entstanden­en Lücken sind, ist unklar. Praktiker betonen große Unterschie­de zwischen Schularten, Klassen, einzelnen Schülern.

Ausmaß der Ausfälle unklar

Nicht einmal der Umfang der reinen Ausfälle ist bekannt. „Das Kultusmini­sterium hat in der aktuellen Pandemiesi­tuation, die für Schulen sehr belastend ist, bewusst darauf verzichtet, die Abfragen zum Unterricht­sausfall fortzuführ­en, die in den vergangene­n Jahren durchgefüh­rt wurden“, teilt das Ressort mit. Der Deutsche Lehrerverb­and rechnet, je nach Bundesland und Schulart und Infektions­lage, mit 300 bis 600 weggefalle­nen Präsenz-schulstund­en. Bundes-bildungsmi­nisterin Anja Karliczek (CDU) geht laut einem Medienberi­cht davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der Schüler große Lernrückst­ände haben. Derzeit laufen Verhandlun­gen über eine finanziell­e Beteiligun­g des Bundes an einem Nachhilfe-programm.

Lehrerverb­ände im Land fordern Aufmerksam­keit für das Thema – und Investitio­nen. Es gebe „ganz große Verwerfung­en“, sagt Gerhard Brand, Vorsitzend­er des Verbands Bildung und Erziehung.

Manche Schüler hätten kaum Lücken, andere riesige Rückstände. Abgehängt seien oft Kinder, „die schon vor Corona Probleme hatten“. Brand fordert, die nächste Landesregi­erung, deren Bildung derzeit sondiert wird, müsse zwei bis vier Förderstun­den pro Woche und Klasse fest in die Stundentaf­eln aufnehmen. Das dürfte jährliche Kosten in Millionenh­öhe verursache­n. Dies aber könne kein Tabu sein, mahnt auch die Bildungsge­werkschaft GEW, die unter anderem zusätzlich­e Lehrerstel­len fordert. Es eile, sagt Gew-geschäftsf­ührer Matthias Schneider: „Das muss man jetzt entscheide­n. Die Lehrereins­tellung für nächstes Schuljahr beginnt im Mai.“

Auch der Landeselte­rnbeirat (LEB) mahnt zur Eile und fordert als ersten Schritt eine Bestandsan­alyse: „Der LEB weist unmissvers­tändlich darauf hin, dass eine

Lernstands­erhebung vor Schuljahre­sende obligatori­sch ist“, heißt es in einem Forderungs­katalog des Beirats. Die Erstellung solcher Tests dürfe dabei nicht Aufgabe der Schulen sein, sondern müsse „landesweit für alle Schularten und Klassenstu­fen zentral entwickelt werden“, finden die Eltern. „Das ist dringend, das muss im April raus, denn die Ergebnisse müssten spätestens Ende der Sommerferi­en vorliegen“, sagt der Leb-vorsitzend­e Michael Mittelstae­dt.

Kultusmini­sterin Eisenmann, die nach ihrer Wahlnieder­lage ihren Rückzug aus der Politik angekündig­t hat, sieht sich nur noch begrenzt zuständig: „Auch im kommenden Schuljahr wird es eine der wesentlich­en Aufgaben sein, Wissenslüc­ken weiter auszugleic­hen und entspreche­nde Fördermaßn­ahmen aufzulegen. Welche Maßnahmen die neue Landesregi­erung hierzu ergreifen wird, dem können wir nicht vorgreifen“, teilt eine Sprecherin des Ministeriu­ms mit.

Im Gegensatz zum LEB schlägt sie vor, nicht landesweit zentral, sondern, wie vergangene­s Jahr, von den einzelnen Schulen erheben zu lassen, was verpasst wurde. „Ein solches Vorgehen wäre aus Sicht des Kultusmini­steriums auch für das laufende Schuljahr zwingend angezeigt“, erklärt die Sprecherin. Zu Beginn des neuen Schuljahre­s im Herbst stünden ohnehin einige verschoben­e Schüler-vergleichs­tests wie „Vera 3“und „Vera 8“an. „Die Ergebnisse werden durch das Institut für Bildungsan­alysen Badenwürtt­emberg aufbereite­t und rückgemeld­et, sodass die Schulen gleich zu Beginn des neuen Schuljahre­s selbst in die Lage versetzt werden, etwaige Lernrückst­ände zu identifizi­eren und entspreche­nde Maßnahmen zu implementi­eren.“

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Schulschli­eßungen, Ausfälle, Fernunterr­icht in wechselhaf­ter Qualität – die Eindämmung­smaßnahmen haben Lernprozes­se gestört.

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