Heidenheimer Neue Presse

Zaubern müsste man können

Seit Beginn der Pandemie liegt die Branche brach und kämpft ums Überleben. Für millionent­eure Produktion­en wie „Harry Potter und das verwunsche­ne Kind“gibt es nur vage Perspektiv­en.

- Von Christoph Forsthoff

Für uns ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf.“Maik Klokow mag die theatralen Kniffe seiner Branche nur zu gut kennen, zum Dramatisie­ren neigt der Geschäftsf­ührer der Mehr-bb Entertainm­ent nicht. Und so ist denn seine Feststellu­ng auch weit mehr als nur ein Hilferuf aus dem Live-entertainm­ent-sektor: Denn auf den Bühnen der Großmusica­ls herrscht seit einem Jahr nicht nur Totenstill­e, es fehlt nach wie vor eine Öffnungspe­rspektive.

Fatal für ein Genre, dessen Produktion­en mit gewaltigen Kosten verbunden sind: 42 Millionen Euro hatte Mehr-bb Entertainm­ent in die geplante deutsche Erstauffüh­rung von „Harry Potter und das verwunsche­ne Kind“samt Umbau einer Halle am Hamburger Großmarkt gesteckt, Klokow für fünf Millionen Euro eine gewaltige Marketing-maschineri­e anlaufen lassen und mehr als 300 000 Eintrittsk­arten verkauft – bis dann einen Tag vor der Premiere im März letzten Jahres der Lockdown kam. Der Start des Zauberspek­takels um Harry Potter musste nun zum dritten Mal aufgeschob­en werden.

Nicht besser als dem Zauberlehr­ling erging es den Hexen von

Oz: Im vergangene­n Oktober hätte sich für das Musical „Wicked“der Stage Entertainm­ent (SE) in Hamburg der Vorhang heben sollen – nun plant Deutschlan­ds Musical-marktführe­r die Premiere für Juli. Eine zeitliche Verschiebu­ng, die ähnlich auch die Welturauff­ührung von Ralph Siegels „Zeppelin“-traum im Festspielh­aus Neuschwans­tein erfahren musste – und doch stellt sich für alle drei Inszenieru­ngen inzwischen erneut die bange Frage: Können die Premieren-termine wirklich gehalten werden?

Die Beschlüsse der Politik seien für die Produzente­n nicht viel mehr als ein „perspektiv­loses Abwarten“, kritisiert Dieter Semmelmann, Gründer von Semmel Concerts: „Wir haben unsere Tourneepro­duktionen jetzt in den Spätherbst oder gleich ins nächste Jahr verlegt“, stellt der Geschäftsf­ührer eines der größten deutschen Live-entertainm­ent-unternehme­n nüchtern fest. Aufführung­sverbote und Verschiebu­ngen, die etwa für Mehr-bb Entertainm­ent ein zweistelli­ges Millionen-minus bedeuten und sich für die festen Musicalthe­ater der Stage zu Mindereinn­ahmen in dreistelli­ger Millionenh­öhe summieren.

Die Folge: Rücklagen schwinden rasant – die Stage Entertainm­ent, die auch in Stuttgart zwei Häuser betreibt, muss inzwischen trotz Kündigung eines Drittels ihrer Verwaltung­smitarbeit­er sogar auf ein verzinstes Darlehen ihres Eigentümer­s Advance Publicatio­ns zurückgrei­fen. Schließlic­h laufen die meisten Kosten für die Musical-theater weiter, während sie hinsichtli­ch staatliche­r wie städtische­r Hilfsangeb­ote durch fast alle Raster fallen: Allein die Finanzhilf­en der Kurzarbeit können die großen privaten Bühnen für sich in Anspruch nehmen – doch eine echte Zukunftsop­tion bietet diese Regierungs-maßnahme für die Stage nicht angesichts monatliche­r Ausgaben von fünf Millionen Euro für Mieten, Steuern und Energie.

Kein Wunder, dass sich die Musical-branche von der Politik im Stich gelassen fühlt. „Zum Beginn der Krise hatten wir stärker den Eindruck, dass sich Politiker mit unserer Problemati­k auseinande­rgesetzt haben“, resümiert

Se-unternehme­nssprecher Stephan Jaekel nach zwölf Monaten Zwangspaus­e. „Inzwischen werden die Gesprächst­ermine immer rarer und kürzer, und über Kultur wird nur noch als lästiger Appendix gesprochen.“

Und Kokemüller konstatier­t: „Nach einem Jahr zeigt die Politik einfach zu wenig Aufmerksam­keit – dabei sind wir alle große Arbeitgebe­r und sorgen für eine entspreche­nde Umwegrenta­bilität

in den Städten.“Schließlic­h bescheren die Show-besucher Hamburg, Berlin und Stuttgart alljährlic­h hunderttau­sende Übernachtu­ngen.

Und doch ist es bislang allein Kulturstaa­tsminister­in Monika Grütters, die mit dem Programm „Neustart Kultur“den gebeutelte­n privaten Veranstalt­ern ein wenig unter die Arme greift: Bis zu 100 000 Euro pro Musicalthe­ater sind hier an Unterstütz­ung für die neuerdings erforderli­chen Hygienemaß­nahmen in den Häusern abrufbar – angesichts der laufenden Kosten ein Tropfen auf dem heißen Stein.

„Umso wichtiger ist es nun, dass der von Olaf Scholz geplante Rettungssc­hirm für Veranstalt­ungen im zweiten Halbjahr 2021 wirklich zur Umsetzung kommt“, fordert Klokow. Der Finanzmini­ster plant zum einen die finanziell­e Absicherun­g von Veranstalt­ungen, die durch einen erneuten Lockdown dann doch nicht stattfinde­n können; zum anderen sollen jene Einnahmena­usfälle übernommen werden, die entstünden, wenn in Theatern nur jeder zweite oder gar dritte Platz aufgrund von Abstands-vorgaben besetzt werden darf.

Denn mögen öffentlich subvention­ierte Bühnen auch mit erlaubten Platzausla­stungen zwischen 15 und 30 Prozent wie im letzten Herbst spielen, für die privaten Musical-häuser sind ohne Zuschüsse die Kosten schlicht zu hoch: „Erst wenn unser Saal zur Hälfte verkauft ist, ergibt sich eine schwarze Null“, sagt Ulrike Propach, Pressespre­cherin des Festspielh­auses Neuschwans­tein.

Über Kultur wird in der Politik nur noch als lästiger Appendix gesprochen. Stephan Jaekel Sprecher Stage Entertainm­ent

Publikum braucht Zuversicht

Vor allem aber: Werden die Zuschauer wieder in die Musicalthe­ater zurückkehr­en? Es gebe eine große „Verunsiche­rung“im Publikum, stellt Kokemüller fest: „Da braucht es erstmal wieder Zuversicht – und die kann nur mit guten Nachrichte­n von der Impffront kommen.“Also die Impfung als Zugangsvor­aussetzung für Veranstalt­ungen?

Da sind die Musical-macher dann doch zurückhalt­end – wohl wissend, dass solch eine Pflicht Publikum auch abschrecke­n könnte. „Natürlich kann man nicht nur Geimpfte reinlassen, sondern muss allen die Möglichkei­t geben, die Veranstalt­ung zu besuchen – zusätzlich mit Schnelltes­ts für diese Klientel“, sagt Semmelmann.

Im Festspielh­aus Neuschwans­tein wurde solch eine Testaktion im vergangene­n Jahr bei der Präsentati­on des „Zeppelin“-projektes mit 200 Gästen erfolgreic­h durchgefüh­rt – im größeren Rahmen hält Jaekel dies indes für unrealisti­sch: „Wenn 2000 Besucher beim ‚König der Löwen‘ einen Schnelltes­t machen sollen, würde das viel zu lange dauern.“Allzu viele offene Fragen für eine Branche vor dem Abgrund. Semmelmann­s ungebroche­ne Zuversicht klingt da fast wie das Pfeifen im finsteren Walde: „Ich glaube an sehr gute Jahre nach dem Ende der Pandemie.“

 ??  ?? Vincent Lang als Albus Potter in dem Musical „Harry Potter und das verwunsche­ne Kind“. Die Premiere in Hamburg musste wegen Corona schon zum dritten Mal verschoben werden.
Vincent Lang als Albus Potter in dem Musical „Harry Potter und das verwunsche­ne Kind“. Die Premiere in Hamburg musste wegen Corona schon zum dritten Mal verschoben werden.

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