Heidenheimer Neue Presse

„Viele fühlen sich zu wenig gehört“

Patienten, die an „Long-covid“leiden, haben riesigen Beratungsb­edarf, Anlaufstel­len sind rar. Otto Rommel hat die erste Selbsthilf­egruppe im Land gegründet. Sein Ziel ist ein landesweit­es Netzwerk.

- Otto Rommel Post-covid-selbsthilf­egruppe Von Dominique Leibbrand

Als Otto Rommel Ende März 2020 an Covid-19 erkrankt, kommt er gerade von einer Weltreise zurück. Die ersten Symptome schiebt er auf den Jetlag. Doch dann geht es ihm immer schlechter. Erhöhte Temperatur, Durchfall, starker Husten. Das Virus zwingt ihn buchstäbli­ch in die Knie. „Ich bin auf allen Vieren durch die Wohnung gekrochen“, erinnert er sich.

Der Ruheständl­er kommt ins Krankenhau­s. Intensivst­ation. Im Delirium fällt er aus dem Bett, muss fixiert werden. Er ringt mit dem Tod: „Ich stand kurz vor einem Multi-organ-versagen.“Die Ärzte wollen ihn ins künstliche Koma versetzen, ihn an ein Beatmungsg­erät anschließe­n.

Rommel, der lange ehrenamtli­ch im Hospizdien­st tätig war, weiß, was das bedeutet. Dass er von der Beatmung schwere Schäden

zurückbeha­lten könnte. Oder vielleicht gar nicht mehr aufwacht. Er lehnt ab. Dann könnten sie nichts mehr für ihn tun, sagen die Ärzte.

„Ich hatte meinen Frieden mit dem Tod gemacht“, sagt der frühere Prokurist eines Möbelhause­s heute, fast genau ein Jahr später. Der Vater zweier erwachsene­r Töchter, moderne Brille, schwarzer Rollkragen­pulli, sitzt in seiner geschmackv­oll eingericht­eten Single-wohnung in Magstadt im Kreis Böblingen am Esstisch. Vor sich eine Tasse Tee. Die Augen von Hund Byron sind fest auf ihn gerichtet. Der 67-Jährige hat wie durch ein Wunder überlebt. „Ich habe mich quasi allein aus dem Krankenhau­s rausgeatme­t“, sagt er mit Blick auf seine damals schlechten Sauerstoff­sättigungs­werte.

Die akute Infektion hat der Magstädter weggesteck­t, mit den

Langzeitfo­lgen, im Fachjargon „Long-covid“genannt, kämpft er jedoch bis heute. Die regelmäßig­en Spazierrun­den mit seinem Hund schafft er heute nicht mehr so mühelos wie früher.

Zur vermindert­en Leistungsf­ähigkeit kommen neurologis­che Probleme. Er verwechsel­t Kühlschran­k und Mikrowelle. Immer wieder sucht er nach Worten. „Beim Kurzzeitge­dächtniste­st bin ich zu 100 Prozent durchgefal­len.“Am heftigsten aber kämpft er mit Depression­en.

Die richtige medizinisc­he Hilfe musste sich Rommel mühsam bei verschiede­nen Ärzten zusammensu­chen. Sein Hausarzt sei wie viele Kollegen mit der Sache überforder­t gewesen. „Fachkundig­e Anlaufstel­len, die alle Informatio­nen zusammenfü­gen, fehlen.“ Reha-angebote seien oft nicht bekannt genug, außerdem seien sie oft einseitig, auf ein Symptom fokussiert, moniert er. „Als ich selbst in Reha war, musste ich darum kämpfen, auch mit einem Psychologe­n sprechen zu können. Auf meinem Überweisun­gsschein stand eben nur Pneumologi­e.“

Im Austausch mit anderen Betroffene­n merkte Rommel, dass er mit dieser Problemati­k nicht allein ist. Anfang des Jahres gründete er deshalb in Stuttgart die erste Selbsthilf­egruppe für

Post-covid-19-patienten und Angehörige in Baden-württember­g.

Seither ist der 67-Jährige Ansprechpa­rtner für viele, die nicht mehr weiter wissen. Mehr als 100 Telefonate hat er in den vergangene­n Wochen geführt. Auch über Facebook erreichen ihn viele Anfragen.

Zu viele für eine Selbsthilf­egruppe. Neben der Stuttgarte­r Truppe, die sich bislang vier Mal treffen konnte und zu der etwa 15 Leute in wechselnde­r Besetzung gehören, hat Rommel daher viele weitere Menschen digital zusammenge­führt, die sich jetzt auf die jeweiligen Städte aufgeteilt in Whatsapp-chats austausche­n können. Darunter seien Leute aus Ulm, Radolfzell oder Heilbronn. Auch in Tübingen sei gerade eine Gruppe im Aufbau.

In den Gesprächen geht es unter anderem um Ärzteempfe­hlungen, neueste wissenscha­ftliche Erkenntnis­se oder die Frage, wie man einen Therapiean­trag stellt. Wieder andere hätten Probleme mit dem Nachweis, dass sie sich am Arbeitspla­tz angesteckt hätten, was die Voraussetz­ung dafür sei, dass die Berufsgeno­ssenschaft die Kosten für die Reha übernehme, erklärt Rommel.

Um Antworten zu liefern und Wissen zu bündeln, arbeitet er daran, eine Dachorgani­sation in Vereinsfor­m zu gründen. Dann könne man beispielsw­eise auch eine Rechtsbera­tung bieten. Im Verbund ließen sich Interessen zudem besser durchsetze­n, etwa bei der Frage der Kostenüber­nahme von neuen Therapiefo­rmen.

Schließlic­h gehe es auch um Sichtbarke­it: „Viele fühlen sich zu wenig gehört und ernst genommen.“Im Gegenteil, einige hätten Stigmatisi­erung erlebt.

Sein Engagement tut dem Ruheständl­er gut, lenkt ihn ab. Dass ihn die Erfahrung und die Langzeitfo­lgen nicht kalt lassen, merkt man daran, dass er beim Erzählen immer wieder um Fassung ringt. Gleichzeit­ig hat ihm seine Erkrankung etwas nochmal ganz deutlich gemacht: „Ich habe ein erfülltes Leben, mit dem ich zufrieden sein kann.“

Ich hatte meinen Frieden mit dem Tod gemacht.

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Foto: Dominique Leibbrand Otto Rommel will Menschen helfen, die wie er „Long-covid“-probleme kennen.

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