Heidenheimer Neue Presse

Kein digitales Zurück mehr

Corona hat technologi­sche Prozesse und Lösungen mit sich gebracht. Sind Homeoffice, E-bildung und Computerar­beit nur eine Strategie zum Überleben?

- Von Thomas Veitinger Sascha Friesike des Weizenbaum-instituts

Hilde braucht Hilfe. Sie wohnt nur 200 Meter entfernt. Die App „Machbarsch­aft“zeigt, was die ältere Dame benötigt: Brote, Orangensaf­t und Milch. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung liegt ein Supermarkt. Der Einkauf ist schnell erledigt, die Übergabe erfolgt ohne Kontakt. Die Frau freut sich sehr. Helfende und Hilfesuche­nde zusammenzu­bringen und damit Nachbarn mit Nahrungsmi­tteln zu versorgen, ist die Aufgabe der gemeinnütz­igen Initiative. Allerdings ist der Vorgang fiktiv, weil es die App erst „in Kürze“online geben soll. „Machbarsch­aft“wird aber unter anderem von Bundesmini­sterien unterstütz­t. Sie ist das Ergebnis einer Veranstalt­ung im April 2020 von fast 43 000 Programmie­rer, Designer, Kreativer und sozial engagierte­r Bürger. Die Bundesregi­erung hatte aufgerufen, Probleme der Pandemie zu lösen. 1500 digitale Lösungsvor­schläge wurden eingereich­t, die 20 besten Projekte ausgezeich­net, darunter „Machbarsch­aft“.

Durch Corona hat die Digitalisi­erung in Deutschlan­d an Fahrt aufgenomme­n. Gab es vor der Pandemie oft Skepsis oder offene Ablehnung, Trägheit, Egoismen und Wirtschaft­lichkeitsb­edenken, musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Arbeitgebe­r schickten Links zu Kommunikat­ionssoftwa­re an Mitarbeite­r, Enkel wollten skypen, manche Dinge des täglichen Lebens ließen sich nur noch online erstehen. In Supermärkt­en sollte nur mit Karte bezahlt werden und Schüler sahen ihre Lehrer plötzlich daheim im Kinderzimm­er auf ihrem Tablet statt leibhaftig im Klassenrau­m. Unternehme­n mussten Geld in die Hand nehmen, um digitale Prozesse ins Laufen zu bringen, erkannten aber auch die Vorteile: 97 Prozent sahen die Digitalisi­erung nach einer Umfrage im November als Chance – Rekord! Heimarbeit­er lobten höhere Flexibilit­ät und Effizienz.

„Oft wurden von heute auf morgen Dinge in Bewegung gebracht, die sonst fünf bis zehn

Jahre benötigt hätten“, sagt Sascha Friesike, Direktor des Weizenbaum-instituts für die vernetzte Gesellscha­ft in Berlin. „Menschen waren gezwungen, aus einer Pfad-abhängigke­it auszubrech­en und auf einmal etwas möglich zu machen, das bis dahin für unmöglich gehalten wurde.“Die Offenheit für digitale Lösungen und Geschäftsm­odelle wuchs, von digitalen Bezahlmeth­oden bis zur Nutzung digitaler Dienstleis­tungen. Menschen entwickelt­en ein Gefühl, was funktionie­rte und was nicht. Wer einmal seine Bahnfahrka­rte online gekauft habe, werde sich wohl nie wieder an einem Schalter in eine Schlange stellen, glaubt Friesike. „Mein Stammtisch wird sich aber wieder vor Ort treffen, statt über Zoom-call“, relativier­t er. Der Impuls

zur Veränderun­g habe auch die Reflektion ausgelöst, wie man selbst leben und arbeiten möchte.

Bei Homeoffice waren viele Arbeitgebe­r – darunter auch Behörden – überrascht, dass ihre Angestellt­en und Beamten auch vom Wohnzimmer aus produktiv sein konnten. Hard- und Software mussten in kurzer Zeit beschafft, Sicherheit­sstrukture­n geschaffen, Mitarbeite­r weitergebi­ldet werden. Pendler freuten sich: Die Zeit vom Wohnort zum Arbeitspla­tz gilt den allermeist­en Arbeitnehm­ern laut Umfragen als verlorene Zeit.

Aber es gibt Einschränk­ungen: „Wenn ich gefragt werde, was ich letztes Jahr gelernt habe, dann, dass die Digitalisi­erung auch ihre Grenzen hat“, sagt Christoph Meinel, Direktor des Hasso-plattner Instituts. Etwa bei Video-gesprächen. Mimik und Körperspra­che seien entscheide­nder Bestandtei­l der Kommunikat­ion und somit für den Prozess des Lernens von großer Bedeutung. „Die menschlich­e Begegnung können wir im Digitalen nicht ersetzen, aber wir können mit gezielten Formaten, die den Austausch der Lernenden untereinan­der fördern, versuchen den Teamgeist und die Motivation zu steigern,“sagt Meinel. Anderersei­ts könnte die Umstellung von Präsenz- auf digitale Lehre Deutschlan­d in der digitalen Transforma­tion nach vorne bringen. „In den digitalen Themen war Deutschlan­d lange sehr abgeschlag­en. Vielleicht schaffen wir es, auf diese Weise ein Stück näher an die Möglichkei­ten zu kommen, die unsere Zeit bietet“, sagt der Instituts-leiter.

Die Meinung von Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu Videokonfe­renzen, digitalem Unterricht und virtuellen Uni-hörsälen klingt ähnlich: „Das alles ist aus der Krise dieser Pandemie geboren, aber wir können es auch als Rückenwind sehen. Rückenwind, den wir nutzen wollen, um der digitalen Bildung in Deutschlan­d einen kräftigen Schub zu verleihen.“Eine „Initiative Digitale Bildung“soll helfen.

E-bildung, E-gesundheit, E-justiz, E-verwaltung: Die E-welle scheint in Deutschlan­d keine Grenzen zu kennen. Besonders die Wirtschaft treibt die Digitalisi­erung voran. So will etwa die deutsche Autoindust­rie mit Partnern aus benachbart­en Branchen eine Vernetzung über ganze Lieferkett­en hinweg sicherstel­len und verbessern. Über die Initiative „Catena-x“sollen durch mehr Datenausta­usch unter anderem die Versorgung­ssicherhei­t erhöht, Rückrufe rascher abgewickel­t und die Einhaltung von Klimaschut­z-regeln überwacht werden. Außerdem biete das Netzwerk große Chancen, um die Digitalisi­erung in der Produktion („Industrie 4.0“) und Entwicklun­g des autonomen Fahrens voranzutre­iben, sagt Daimler-chef Ola Källenius. Interessan­t ist die Digitalisi­erung für Unternehme­n auch, weil sie Geld spart – in Zeiten des Umsatzrück­gangs und der Transforma­tion ein wichtiges Argument. In vielen Unternehme­n soll Homeoffice nach dem Abflauen der Pandemie weitergehe­n, auch das spart Geld.

Allerdings sind laut Friesike viele Organisati­onen gefangen in Regelwerke­n und Prozessen, die sie nicht ans Hier und Jetzt angepasst bekommen. Statische Regeln und Vorschrift­en prägten die Kultur und verhindern vielerorts so die Digitalisi­erung. Wie bei dem Symbol für digitalen Wandel an sich, der Videokonfe­renz, waren Enthusiasm­us und Lernkurve sehr steil, dann trat oft Ernüchteru­ng ein. Nur ein kleiner Teil nutzt laut einer Umfrage etwa Software, die gemeinsame­s Arbeiten ermöglicht. Selbst der Präsident des Branchenve­rbandes Bitkom und frühere Deutschlan­d-chef von Microsoft Achim Berg sagt: „Die gute Nachricht ist: Die Unternehme­n wollen etwas tun und die Digitalisi­erung vorantreib­en. Die schlechte Nachricht: Längst nicht alle sind dazu in der Lage.“Nur knapp jedes zweite Unternehme­n wolle neue Geschäftsf­elder erschließe­n. Oft sei Digitalisi­erung nur dazu da, in der Krise zu überleben.

Doch Zwang hin oder her: „Die digitale Transforma­tion war schon vor und wird erst recht nach der Corona-zeit entscheide­nd für den Unternehme­nserfolg bleiben“, schreibt Claudia Ricci in einem Blog des Fraunhofer Instituts für Arbeitswir­tschaft und Organisati­on. Unternehme­n hätten sich zwangsläuf­ig Gedanken um die Gestaltung der neuen Realität machen müssen. Das Resümee der wissenscha­ftlichen Mitarbeite­rin: Ein „Zurück zur alten Normalität“werde es nicht mehr geben.

Entscheide­nd dürfte die Sinnhaftig­keit der Anwendunge­n sein, die Alltagspra­ktikabilit­ät und die Wirtschaft­lichkeit. Digitalisi­erung darf nach dem Abflauen der Pandemie nicht ins Stocken geraten, sind sich alle Experten einig. Es sind weitere Schritte auf dem Weg zu mehr digitaler Selbstbest­immung nötig. Nur so lässt sich die digitale Lücke zu anderen Staaten schließen. „Die Digitalisi­erung führt zu tiefgreife­nden Änderungen sowohl im Informatio­nsund Entscheidu­ngsverhalt­en des Einzelnen als auch im menschlich­en Miteinande­r“, stellte die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenscha­ften, fest: – zweieinhal­b Jahre vor Corona.

Oft wurden von heute auf morgen Dinge in Bewegung gebracht, die sonst fünf bis zehn Jahre benötigt hätten.“

Direktor

 ?? Foto: ©Ann in the uk/shuttersto­ck. com ?? Was wird von der Digitalisi­erung nach der Pandemie übrig bleiben?
Foto: ©Ann in the uk/shuttersto­ck. com Was wird von der Digitalisi­erung nach der Pandemie übrig bleiben?
 ?? Illustrati­on: Peters ?? Einkäufe für ältere Menschen erledigen und kontaktlos übergeben: Apps machen es möglich.
Illustrati­on: Peters Einkäufe für ältere Menschen erledigen und kontaktlos übergeben: Apps machen es möglich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany