Kein digitales Zurück mehr
Corona hat technologische Prozesse und Lösungen mit sich gebracht. Sind Homeoffice, E-bildung und Computerarbeit nur eine Strategie zum Überleben?
Hilde braucht Hilfe. Sie wohnt nur 200 Meter entfernt. Die App „Machbarschaft“zeigt, was die ältere Dame benötigt: Brote, Orangensaft und Milch. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung liegt ein Supermarkt. Der Einkauf ist schnell erledigt, die Übergabe erfolgt ohne Kontakt. Die Frau freut sich sehr. Helfende und Hilfesuchende zusammenzubringen und damit Nachbarn mit Nahrungsmitteln zu versorgen, ist die Aufgabe der gemeinnützigen Initiative. Allerdings ist der Vorgang fiktiv, weil es die App erst „in Kürze“online geben soll. „Machbarschaft“wird aber unter anderem von Bundesministerien unterstützt. Sie ist das Ergebnis einer Veranstaltung im April 2020 von fast 43 000 Programmierer, Designer, Kreativer und sozial engagierter Bürger. Die Bundesregierung hatte aufgerufen, Probleme der Pandemie zu lösen. 1500 digitale Lösungsvorschläge wurden eingereicht, die 20 besten Projekte ausgezeichnet, darunter „Machbarschaft“.
Durch Corona hat die Digitalisierung in Deutschland an Fahrt aufgenommen. Gab es vor der Pandemie oft Skepsis oder offene Ablehnung, Trägheit, Egoismen und Wirtschaftlichkeitsbedenken, musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Arbeitgeber schickten Links zu Kommunikationssoftware an Mitarbeiter, Enkel wollten skypen, manche Dinge des täglichen Lebens ließen sich nur noch online erstehen. In Supermärkten sollte nur mit Karte bezahlt werden und Schüler sahen ihre Lehrer plötzlich daheim im Kinderzimmer auf ihrem Tablet statt leibhaftig im Klassenraum. Unternehmen mussten Geld in die Hand nehmen, um digitale Prozesse ins Laufen zu bringen, erkannten aber auch die Vorteile: 97 Prozent sahen die Digitalisierung nach einer Umfrage im November als Chance – Rekord! Heimarbeiter lobten höhere Flexibilität und Effizienz.
„Oft wurden von heute auf morgen Dinge in Bewegung gebracht, die sonst fünf bis zehn
Jahre benötigt hätten“, sagt Sascha Friesike, Direktor des Weizenbaum-instituts für die vernetzte Gesellschaft in Berlin. „Menschen waren gezwungen, aus einer Pfad-abhängigkeit auszubrechen und auf einmal etwas möglich zu machen, das bis dahin für unmöglich gehalten wurde.“Die Offenheit für digitale Lösungen und Geschäftsmodelle wuchs, von digitalen Bezahlmethoden bis zur Nutzung digitaler Dienstleistungen. Menschen entwickelten ein Gefühl, was funktionierte und was nicht. Wer einmal seine Bahnfahrkarte online gekauft habe, werde sich wohl nie wieder an einem Schalter in eine Schlange stellen, glaubt Friesike. „Mein Stammtisch wird sich aber wieder vor Ort treffen, statt über Zoom-call“, relativiert er. Der Impuls
zur Veränderung habe auch die Reflektion ausgelöst, wie man selbst leben und arbeiten möchte.
Bei Homeoffice waren viele Arbeitgeber – darunter auch Behörden – überrascht, dass ihre Angestellten und Beamten auch vom Wohnzimmer aus produktiv sein konnten. Hard- und Software mussten in kurzer Zeit beschafft, Sicherheitsstrukturen geschaffen, Mitarbeiter weitergebildet werden. Pendler freuten sich: Die Zeit vom Wohnort zum Arbeitsplatz gilt den allermeisten Arbeitnehmern laut Umfragen als verlorene Zeit.
Aber es gibt Einschränkungen: „Wenn ich gefragt werde, was ich letztes Jahr gelernt habe, dann, dass die Digitalisierung auch ihre Grenzen hat“, sagt Christoph Meinel, Direktor des Hasso-plattner Instituts. Etwa bei Video-gesprächen. Mimik und Körpersprache seien entscheidender Bestandteil der Kommunikation und somit für den Prozess des Lernens von großer Bedeutung. „Die menschliche Begegnung können wir im Digitalen nicht ersetzen, aber wir können mit gezielten Formaten, die den Austausch der Lernenden untereinander fördern, versuchen den Teamgeist und die Motivation zu steigern,“sagt Meinel. Andererseits könnte die Umstellung von Präsenz- auf digitale Lehre Deutschland in der digitalen Transformation nach vorne bringen. „In den digitalen Themen war Deutschland lange sehr abgeschlagen. Vielleicht schaffen wir es, auf diese Weise ein Stück näher an die Möglichkeiten zu kommen, die unsere Zeit bietet“, sagt der Instituts-leiter.
Die Meinung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Videokonferenzen, digitalem Unterricht und virtuellen Uni-hörsälen klingt ähnlich: „Das alles ist aus der Krise dieser Pandemie geboren, aber wir können es auch als Rückenwind sehen. Rückenwind, den wir nutzen wollen, um der digitalen Bildung in Deutschland einen kräftigen Schub zu verleihen.“Eine „Initiative Digitale Bildung“soll helfen.
E-bildung, E-gesundheit, E-justiz, E-verwaltung: Die E-welle scheint in Deutschland keine Grenzen zu kennen. Besonders die Wirtschaft treibt die Digitalisierung voran. So will etwa die deutsche Autoindustrie mit Partnern aus benachbarten Branchen eine Vernetzung über ganze Lieferketten hinweg sicherstellen und verbessern. Über die Initiative „Catena-x“sollen durch mehr Datenaustausch unter anderem die Versorgungssicherheit erhöht, Rückrufe rascher abgewickelt und die Einhaltung von Klimaschutz-regeln überwacht werden. Außerdem biete das Netzwerk große Chancen, um die Digitalisierung in der Produktion („Industrie 4.0“) und Entwicklung des autonomen Fahrens voranzutreiben, sagt Daimler-chef Ola Källenius. Interessant ist die Digitalisierung für Unternehmen auch, weil sie Geld spart – in Zeiten des Umsatzrückgangs und der Transformation ein wichtiges Argument. In vielen Unternehmen soll Homeoffice nach dem Abflauen der Pandemie weitergehen, auch das spart Geld.
Allerdings sind laut Friesike viele Organisationen gefangen in Regelwerken und Prozessen, die sie nicht ans Hier und Jetzt angepasst bekommen. Statische Regeln und Vorschriften prägten die Kultur und verhindern vielerorts so die Digitalisierung. Wie bei dem Symbol für digitalen Wandel an sich, der Videokonferenz, waren Enthusiasmus und Lernkurve sehr steil, dann trat oft Ernüchterung ein. Nur ein kleiner Teil nutzt laut einer Umfrage etwa Software, die gemeinsames Arbeiten ermöglicht. Selbst der Präsident des Branchenverbandes Bitkom und frühere Deutschland-chef von Microsoft Achim Berg sagt: „Die gute Nachricht ist: Die Unternehmen wollen etwas tun und die Digitalisierung vorantreiben. Die schlechte Nachricht: Längst nicht alle sind dazu in der Lage.“Nur knapp jedes zweite Unternehmen wolle neue Geschäftsfelder erschließen. Oft sei Digitalisierung nur dazu da, in der Krise zu überleben.
Doch Zwang hin oder her: „Die digitale Transformation war schon vor und wird erst recht nach der Corona-zeit entscheidend für den Unternehmenserfolg bleiben“, schreibt Claudia Ricci in einem Blog des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation. Unternehmen hätten sich zwangsläufig Gedanken um die Gestaltung der neuen Realität machen müssen. Das Resümee der wissenschaftlichen Mitarbeiterin: Ein „Zurück zur alten Normalität“werde es nicht mehr geben.
Entscheidend dürfte die Sinnhaftigkeit der Anwendungen sein, die Alltagspraktikabilität und die Wirtschaftlichkeit. Digitalisierung darf nach dem Abflauen der Pandemie nicht ins Stocken geraten, sind sich alle Experten einig. Es sind weitere Schritte auf dem Weg zu mehr digitaler Selbstbestimmung nötig. Nur so lässt sich die digitale Lücke zu anderen Staaten schließen. „Die Digitalisierung führt zu tiefgreifenden Änderungen sowohl im Informationsund Entscheidungsverhalten des Einzelnen als auch im menschlichen Miteinander“, stellte die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, fest: – zweieinhalb Jahre vor Corona.
Oft wurden von heute auf morgen Dinge in Bewegung gebracht, die sonst fünf bis zehn Jahre benötigt hätten.“
Direktor